Und da geht sie dahin, die Partei der Volksstimme. "Bütünleşme" heißt ihr letztes Wort, Integration oder Verganzheitlichung. Die konservativen Islamisten der HAS-Partei  (Halkīn Sesi Partisi) werden in den Hafen der AK-Partei von Regierungschef Tayyip Erdogan segeln. "Wir unterstützen jede Entscheidung unseres Vorsitzenden", erklärte der Parteirat am Sonntag. Das hört ein Parteichef gern.

Mehmet Bekaroglu, der Vorsitzende der HAS-Partei in Istanbul, der nichts unterstützen wollte, hat am Vortag seinen Rücktritt bekannt gegeben und soll ein Angebot von der sozialdemokratischen Oppositionspartei CHP haben, was schon zeigt, wie interessant das Personal der islamistischen Minipartei ist. Denn wegen der 0,77 Prozent an Wählerstimmen, die sie 2011 bei ihrer ersten und wohl einzigen Teilnahme an einer Wahl einfuhr, hat Erdogan der HAS-Partei wohl kaum die Tore geöffnet. Es geht um Strategie und den Mann, der Erdogans Partei in den nächsten Jahren sehr nützlich sein kann: Numan Kurtulmuş, der Chef der Partei der Volksstimme.

Der 53-jährige Wirtschaftsprofessor gilt als seriöser Glaubensmann, der mit einiger Sympathie in der konservativen türkischen Wählerschaft, aber ohne jede Chance gegen die Wahlmaschine der AKP moralische Positionen vertritt, die der Regierungspartei nach bald zehn Jahren an der Macht nicht mehr so abgenommen werden. Kurtulmuş kritisierte die Verquickung der AKP mit dem big business in der Türkei, die Vernachlässigung sozial schwacher Arbeitnehmer und der Pensionisten, angebliche Fehlentscheidungen und nicht eingelöste Versprechen der AKP-Bürgermeister in den vielen Städten des Landes, die sie regieren. Außenpolitisch folgte Kurtulmuş stets der anti-amerikanischen und anti-israelischen Linie der politischen Islamisten.

Erdogans Bruch mit Israel 2011 nach dem gewaltsamen Stopp des Gaza-Hilfschiffs Mavi Marmara ein Jahr zuvor hat den politischen Islam und den gemäßigt-pragmatischen Islam der AKP wieder einander näher gebracht. Symbolische Terraingewinne der islamischen Regierungspartei in den vergangenen Jahren wie das faktische Ende des Kopftuchverbots an den türkischen Universitäten oder das Alkoholverbot, das mittlerweile in einigen der AKP-regierten Städten in Anatolien auf öffentlichen Plätzen gilt, haben Unterschiede zwischen der AKP und ihren kleinen Konkurrenzparteien weiter verwischt. Vor allem aber die nun laufenden gerichtlichen Untersuchungen des "postmodernen Putsch" von 1997, mit dem das Militär den damaligen islamistischen Premierminister Necmettin Erbakan von der Macht verdrängte, haben die Islamisten verschiedener Couleur gleichsam in einem Akt der Wiedergutmachung miteinander versöhnt: Erbakan, Erdogan und Kurtulmuş waren seinerzeit ein Team in derselben Partei - der Wohlfahrtspartei (Refah).

Während Erdogan aber nach dem Verbot der Refah und seiner Gefängnisstrafe politisch runderneuert mit Gefolgsleuten die Gründung der gemäßigten AKP in Angriff nahm, blieb Kurtulmuş bei Erbakan. Nach dem Verbot der Refah-Nachfolgepartei - der Tugendpartei FP (Fazilet Partisi) 2001 - war er bei der Gründung des nächsten Erbakan-Vereins dabei, der Partei der Glückseligkeit SP (Saadet Partisi). Von 2008 bis 2010 führte Kurtulmuş die SP, flog aber hinaus, als er sich dem Wunsch Erbakans widersetzte, seine Kinder Fatih und Elif auf Führungspositionen zu setzen. Kurtulmuş gründete die HAS-Partei, Erbakan starb im Februar 2011.

Erdogans Einladung an Kurtulmuş sorgt für einigen Unmut in der AKP, die einen in Personalangelegenheiten sonst sehr auf Loyalität bedachten Chef kennt. Dass ein Neuankömmling verdiente Parteipolitiker beiseite drängt, wird nur murrend hingenommen. Viele politische Beobachter glauben, Kurtulmuş sei von Erdogan schon als nächster Vorsitzender der AKP auserkoren, wenn der Regierungschef 2014 für das Amt des Staatspräsidenten kandidiert. Für solche Spekulationen scheint es noch zu früh. Erdogan versuchte diese Gerüchte verstummen zu lassen, als er am Sonntag eine  neuerliche, Kandidatur für den AKP-Vorsitz ankündigte (es wäre die vierte; als Staatspräsident kann er allerdings keine Partei führen).  Andererseits muss bis zum nächsten Parteitag entschieden sein, welchen Platz und welches Gewicht Kurtulmuş in der AKP erhält. Dieser Parteitag ist in zweieinhalb Monaten, am 30. September. Kurtulmuş könnte das große Problem lindern helfen, dass sich die AKP-Politiker mit ihrem Parteistatut geschaffen haben: Mehr als drei aufeinanderfolgende Amtszeiten als Parlamentarier sind nicht erlaubt; ein Großteil der Minister und wichtigen Abgeordneten der Partei muss deshalb bei der nächsten Wahl aussetzen - sofern das Statut im September nicht einfach geändert wird. Ein profilierter Politiker wie Numan Kurtulmuş gibt der AKP schließlich ein wenig neuen Anstrich - den braucht sie auch nach zehn Jahren an der Macht.