Der Liebe Würze bei Dave St-Pierre: Die tückischen Amoretten haben sowohl Flügel als auch Pfeil und Bogen abgelegt. Jetzt kümmern sie sich um das leibliche Wohl der ihnen Ausgelieferten. 

Foto: kirchner

Salzburg - William Forsythe zum Beispiel hat es manchmal getan. Auch Édouard Lock, der Chef von La La La Human Steps. Er tat es erst vor kurzem. Und jetzt hat sich's Locks kanadischer Landsmann Dave St-Pierre auch gegönnt. Sein neues Stück, das gerade zum Abschluss des Sommerszene-Festivals im Salzburger Republic zu sehen war, heißt bis heute schlicht New Creation. So gut wie "Ohne Titel".

Ob diese Arbeit bis zum 15. November, wenn sie auch im Tanzquartier Wien zu sehen ist, anders heißen wird, werden wir sehen. Die New Creation des 38-jährigen, sich angeblich selbst als "Enfant terrible" bezeichnenden Kanadiers hat jedenfalls die hysterische Energie von früheren St-Pierre-Werken wie La pornographie des âmes und Un peu de tendresse bordel de merde! bewahrt.

Worum es in dieser neuen Choreografie geht, ist schnell erzählt: Junge Frau und junger Mann werden von einer kleinen Heerschar ausgewachsener weiblicher und männlicher Amoretten heimgesucht und malträtiert. Und Punkt.

Erotik des Jammers

Das ist klarerweise Metapher in aller Breite. Denn St-Pierre ist von den handelsüblichen Verwüstungen zwischen Liebe, Tod und Leidenschaft abgrundtief begeistert, und dazu gehören reichlich Ketchup plus kübelweise, sagen wir: Apfelmus, das verdächtig nach Erbrochenem aussieht. Der menschliche Körper ist nach diesen Anwendungen ein angepatzter. Ein kreischender. Ein schluchzender, sich aufbäumender, krümmender, windender, nackter Jammer. Wenn man sich die TV-Bilder der vergangenen Monate - etwa aus Syrien - vor Augen führt, kommt das ganz dicht an die Wirklichkeit heran. Aber St-Pierre denkt gar nicht daran, so weit zu gehen.

Seine da und dort auch heitere Splatterperformance ist, wenn überhaupt, nur im privaten Sinn "politisch". Damit produziert St-Pierre weit entfernt von einer Radikalität, wie sie etwa die New Yorker Choreografin Ann Liv Young auf die Bühne bringt.

Young involviert ihr Publikum mit schmerzender Direktheit in die Schärfe ihrer Gesellschaftskritik. Dagegen warten die manierierten und marinierten Körper bei Dave St-Pierre mit einem erotisierenden Beigeschmack auf. Das Salzburger Publikum hat diesen Abendkurs in "Wie man eine Provokation bastelt" der 22-köpfigen Tanzgruppe mit großem Applaus quittiert. Damit hat es entschieden: Eine kalkulierte Aufregung, die so umarmt wird, ist natürlich keine Provokation, sondern ganz normaler Unterhaltungskitzel. Quasi ein Amuse-Gueule, bevor man sich wieder der echten Anarchie zuwendet, also den Börsenkursen oder der Schuldenkrise.

Ein ganz seltenes Ereignis hatte die Sommerszene noch als Nachtisch zu St-Pierres Erguss auf Lager. Wim Vandekeybus (siehe das STANDARD-Interview vom 7. Juli) persönlich präsentierte vor kleinem Publikum in den Salzburger Kavernen sein Filmwerk in Ausschnitten und Kommentaren unter dem Titel The Wim Reel. Der weltberühmte belgische Choreograf, der Anfang August bei Impulstanz seine jüngste Arbeit Booty Looting vorstellen wird und 2013 sein 25. Bühnenjubiläum sowie seinen 50. Geburtstag begeht, zeigte ganz ohne Selbstironie u. a. auch seinen Werbefilm für die Brüsseler Tageszeitung De Standaard. Und er verriet, dass er nach seinem ersten Spielfilm über ein getrenntes Zwillingspaar, der Dreh soll bald beginnen, ein Musical machen möchte.

Vandekeybus hat sich seinen bubenhaften Charme und seine Begeisterungsfähigkeit gegenüber der eigenen Arbeit bewahrt. Sein Auftritt vor kleinem Publikum (The Wim Reel war erstmals seit Impulstanz 2007 wieder zu sehen) war sicher ein Dankeschön für die veranstalterische Treue des scheidenden Sommerszene-Intendanten Michael Stolhofer, der nach seinem "Zugabe"-Festival nun von Angela Glechner als Regentin im Republic abgelöst wird. (Helmut Ploebst, 16.7.2012)