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Sechs Stunden täglich habe Wiggins nichts getan, als Bier zu trinken, nun schickt er sich an, die Tour de France zu gewinnen.

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Aber: "Der Weg nach Paris ist noch lang."

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Macon/Frankreich - Dem Goldrausch folgte der Suff: Als Bradley Marc Wiggins erstmals der Größte war, warfen ihn die Götter unsanft aus dem Olymp. Der Mann, der so abgeklärt die Tour de France 2012 beherrscht, wurde vor vier Jahren vom Ruhm beherrscht, den ihm der Olympiasieg in Peking beschert hatte. Sechs Stunden täglich, so gab er später zu, habe er nichts getan, als Bier zu trinken, um ewig auf Wolke sieben zu bleiben. Aufgehört hat er erst, als seine Frau Cath schwanger wurde.

Es wäre allzu oberflächlich, die Wandlung des 32-Jährigen zum derzeit wohl komplettesten Radrennfahrer der Welt allein auf diese Episode zurückzuführen. Indes gehört sie dazu. Zur Biografie eines Mannes, der durch eine harte Schule gegangen ist, der eine dunkle Vergangenheit hat. Wenn Bradley Wiggins heute als reifer Sportler die Konkurrenz düpiert, fährt er gleichsam seinen Dämonen davon. Der Alkohol war einer der Dämonen, sein Vater ein anderer.

Gary Wiggins war selbst Radprofi, ein leidlich guter, ein Wandervogel. Einige Jahre fuhr er für belgische Teams, lebte mit seiner Frau Linda in Gent. 1980 kam dort Sohn Bradley zur Welt, zwei Jahre später ging die Ehe in die Brüche. Mutter und Sohn zogen in den Nordwesten Londons, der Vater brach den Kontakt für 14 lange Jahre ab.

Gary Wiggins starb Anfang 2008 in einem Krankenhaus im australischen Aberdeen. Passanten hatten ihn halbtot geprügelt auf der Straße gefunden. Ein halbes Jahr später wurde sein Sohn in Peking zum zweiten und dritten Mal Olympiasieger.

"In Pursuit of Glory"

Bradley Wiggins verarbeitete all das im gleichen Jahr in seiner Biografie "In Pursuit of Glory" (Auf der Jagd nach Ruhm). Sein Erzeuger kommt darin denkbar schlecht weg. Nicht nur, weil er die Familie im Stich ließ. Vater Wiggins schmuggelte Drogen, Dopingmittel, Amphetamine. Jenes Teufelszeug, mit dem sich Weltmeister Tom Simpson bei der Tour 1967 vollpumpte, ehe er am Mont Ventoux tot vom Rad fiel.

Vater Wiggins schmuggelte die Amphetamine in den Windeln seines Sohnes durch den Zoll. "Er hat in Belgien damit begonnen. Er stand unter Druck, das Leben zu finanzieren", erinnert sich Bradley. Er selbst habe niemals illegale Substanzen zu sich genommen. "2002 bin ich als Neuprofi in ein Team gekommen, das eine klare Anti-Doping-Linie fuhr. Aber ich wäre sicher gefährdet gewesen - ich war 21, lebte alleine in Frankreich, stand unter Druck und hatte niemanden, mt dem ich meine Probleme teilen konnte", sagte Wiggins einst.

Wiggins vs. Twitter-Skeptiker

Dementsprechend allergisch reagierte er nun auf Vergleiche, die seine bei der Tour so dominante Sky-Truppe in die Nähe von Lance Armstrongs US-Postal-Team rücken, das zehn Jahre zuvor die Tour in ähnlicher Weise beherrschte - nach allen Erkenntnissen wohl mit systematischem Doping. Und so platzte Wiggins fürchterlich der Kragen, als ihn ein Journalist auf die zahlreichen Skeptiker bei Twitter ansprach, die bei Sky Lug und Trug wittern.

"Fucking Wankers", verdammte Wichser, seien diese Leute, polterte Wiggins in bester Diktion der Pubs im Norden Londons, "ich kann sie nicht ertragen. Für sie ist es doch leicht, anonym bei Twitter diesen Mist zu schreiben. Das ist einfacher, als selbst den Arsch hochzubekommen. Sie wissen doch genau, dass sie in ihrem Leben nichts erreichen werden."

Trotz dieses Ausbruches gilt der baumlange Brite mit den charismatischen rotbraunen Koteletten gemeinhin als angenehmer Zeitgenosse, als weltgewandter Meister des höflichen Understatements. Nach seinem Husarenritt im Zeitfahren von Besancon diktierte er den Journalisten geduldig allerlei Beschwichtigungen in die Blöcke, zunächst in fließendem Französisch, dann in lupenreinem Oxford-Englisch.

"Der Weg nach Paris ist noch lang. Bekanntlich ist die Oper nie vorbei, bevor die fette Frau gesungen hat. Und die hat noch nicht einmal die Bühne betreten", sagte Wiggins. Ein leises Schmunzeln konnte er dabei nicht verbergen. Denn schlagen, das weiß der Dominator, könnte er sich nur selbst. Das kann und will er nicht zulassen. Diese Tour ist seine Tour. (sid, 11.7.2012)