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Wenn Krankheiten an Zahlen festgemacht werden, spießt es sich oft mit dem humanitären Aspekt.

Foto: reuters/kim kyong-hoon

Jede Leistung hat ihren Preis, auch in der Gesundheit. Jede Blinddarmoperation, jede Geburt und jeder Schlaganfall kostet etwas. Es gibt daher auch Krankheiten und Behandlungen, die sich für ein Krankenhaus mehr rechnen als andere. Aber können Krankheiten überhaupt in Zahlen ausgedrückt werden? Im Bereich der stationären Behandlung in Spitälern ist die Antwort: Ja.

Eine Blinddarmoperation bringt 2.323 bis 3.798 Punkte, ein Schlaganfall 5.465, eine Nierenersatztherapie bis zu 6.456. Das System, mit dem in Spitälern die Kosten für einen Patienten abgerechnet werden, nennt sich leistungsorientierte Krankenanstaltenfinanzierung (LKF). Damit ist eine Abrechnungsmethode gemeint, bei der jeder Behandlung ein Punktewert zugeordnet wird. Je nachdem, wie lange ein Patient im Spital liegt, gibt es mehr oder weniger Punkte, je nach Aufenthaltsdauer ist der Wert anders zu berechnen.

Ein Beispiel

Kommt ein Patient mit Blinddarmentzündung ins Spital (sogenannte Appendektomie), wird die Krankheit in eine Kategorie eingeordnet, die in einem Katalog zu finden ist (in diesem Fall MEL06.01). Dann wird nach einem sogenannten Entscheidungsbaum vorgegangen. Beispielsweise kommt es auf das Alter des Patienten an, im konkreten Fall der Blinddarmoperation, ob die Person älter als 64 Jahre oder zwischen 0 und 14 Jahre alt ist. Ist man älter als 64 und liegt wegen Blinddarmentzündung drei bis maximal 13 Tage im Spital (die durchschnittliche Dauer beträgt 8,8 Tage), werden 3.798 Punkte gutgeschrieben. Die Punkte sind allerdings nur eine Pauschale, es können zusätzlich entsprechende Zu- und Abschläge erfolgen (etwa wenn die Aufenthaltsdauer über- oder unterschritten wird).

LKF ist im Grunde ein vorgegebenes Tarifsystem. Aufgrund der Anzahl der erwirtschafteten Punkte bekommt eine Krankenanstalt für Behandlungen von den öffentlichen Geldgebern wie Bund und Land Mittel zur Verfügung gestellt.

Humanitärer Aspekt gegen Ökonomie

"Es geht nicht darum, Rendite zu erzielen, sondern Gesundheit zu produzieren. Es sollte sich nicht die Frage stellen, wie viel Wirtschaftsleistung produziert wird", sagt Bernhard Schwarz, Gesundheitsökonom am Zentrum für Public Health der Medizinischen Universität Wien, zu derStandard.at. Bei diesem Dilemma dürfe man daher auf keinen Fall den humanitären Aspekt vergessen. Das passiere aber, wenn ein Spital eine zersplitterte Zahlenstruktur habe. Es herrsche der Zwang zum Punkteoptimieren.

Die sogenannten Punkte-Tarife sind also der Preis für eine Krankheitsleistung. "Es gibt Leistungen, die gut bepreist, sind und solche, bei denen der Tarif nicht mehr passt", sagt Schwarz. Die ungleiche Bemessung für verschiedene Behandlungen sei historisch gewachsen. Zum Beispiel haben sich beim Übergang von manuellen zu automatischen Arbeitsschritten bestimmte Tätigkeiten vereinfacht, werden aber immer noch teuer abgerechnet. Die Systeme sind laut Schwarz äußerst heterogen: "Das ist schon ein Dschungel an Tarifen."

Dietmar Schuster von der WKÖ-Abteilung für Sozialpolitik und Gesundheit führt aus, dass das LKF-System zu einer hohen Krankenhausaufnahmerate geführt hat. Laut Schuster wird eine hohe Anzahl an Patienten aufgenommen und die Aufnahmedauer möglichst reduziert, um die Punkte zu maximieren. In Österreich lag die Aufnahmerate 2008 bei 28 Prozent, der EU-Schnitt bei 17,6 Prozent.

Auch nach Ansicht von Michael Haas, Gesundheitsberater und Krankenhausmanager, verleitet das Punktesystem im LKF dazu, dass viel zu viele Patienten stationär aufgenommen werden. Ein Widerspruch zum humanitären Aspekt sei das allerdings nicht. "Es werden sowohl die aufgenommen, die die Behandlung brauchen, als auch die, die sie weniger brauchen. Inhuman ist das nicht, nur ineffizient", sagt Haas.

Für Erich Seyer vom Wiener Krankenanstaltenverbund (KAV) hat das Punktesystem die Aufenthaltsdauer von Patienten in Spitälern sinken lassen. Es sei keinesfalls so, dass Kliniken dazu genötigt würden, Menschen möglichst lange im Bett liegen zu lassen, um dafür Punkte zu kassieren. Seit 1997 gebe es für eine zu lange Liegedauer auch Punkteabschläge. "Es geht darum, eine medizinisch vertretbare Verweildauer zu finden", sagt Seyer.

Gefangenendilemma

Bis zu 50 Prozent der Kosten können über die LKF "rückerstattet" werden. Das kann aber dazu führen, dass der Gedanke an möglichst viele Punkte überwiegt. "Man ist gezwungen, viele Punkte zu machen. Die Krankenhäuser befinden sich in einem sogenannten Gefangenendilemma, weil keiner weiß, was der andere macht", sagt Krankenhausmanager Haas. Diese Abrechnung geschehe nach dem Motto "You get what you pay".

Zu unterscheiden sind die Anzahl der Punkte, die insgesamt von einem Spital erwirtschaftet werden, und der jeweilige Punktewert. Das funktioniert folgendermaßen:

Die Punkte aller Krankenanstalten in einem Bundesland werden zusammengezählt und dann die verfügbaren finanziellen Mittel von Sozialversicherungsträgern, Bund, Ländern und Gemeinden durch diese Punkteanzahl dividiert. Dadurch ergibt sich ein bestimmter Wert pro Punkt. Das Spital bekommt daher für jeden Punkt einen gewissen Geldbetrag gutgeschrieben. Aufwendige OPs bringen laut Seyer dabei mehr Punkte als eine "08/15-Operation".

Das Problem ist aber, dass die finanziellen Mittel für die LKF gedeckelt sind. Wenn also alle Krankenhäuser in einer Region insgesamt mehr Punkte durch Behandlungen erwirtschaften, heißt das nicht automatisch, dass dadurch mehr Mittel zufließen. "In gewisser Hinsicht ist es schon kontraproduktiv, denn je mehr Punkte erwirtschaftet werden, desto geringer der Punktewert für alle Krankenhäuser. Wenn alle Gas geben, wird es insgesamt weniger", sagt Seyer. "Man kennt das Verhalten der Konkurrenz nicht und muss aber darauf achten, dass man nicht zu sehr abfällt."

Was kostet ein Patient?

Nicht berücksichtigt sind Kosten, die sonst noch durch den Patienten anfallen, etwa durch Verpflegung. Die wenigsten Krankenhäuser würden diese laut Haas genau kennen. "Bekommt der Patient viele Punkte, dann ist er eher interessant. Die tatsächlichen Kosten können aber noch höher liegen", sagt Haas. Das LKF-System hilft daher nicht unbedingt, durch mehr Punkte auch höhere Gewinne zu generieren. "Man kann vielleicht höhere Erlöse generieren, aber wenn man seine Kosten nicht kennt, dann nicht", sagt Haas.

Etwa 50 Prozent der Kosten eines Spitals sind über das Punktesystem des LKF gedeckt, den Rest müssen Bund oder Länder tragen. Das hängt allerdings auch von der Region ab, die Punkte sind daher nur als Vergleichswert zu sehen. In manchen Bundesländern, wie zum Beispiel Niederösterreich und Vorarlberg, ist dies stärker von Bedeutung als in anderen. Seyer bemängelt daher, dass über das LKF-System keine Vollkostendeckung abgebildet ist.

Lösungen und Reformen

Für Schwarz ist es notwendig, dass das kleinräumige, spitalslastige Denken in Österreich aufhört. Hoch spezialisierte Behandlungen mit teurem Equipment sollte man auf Regionen aufteilen und in vernünftigen Abständen planen, denn man brauche auch die notwendigen Patientenzahlen. "Bei der Pflege ist kleinräumige Planung sinnvoll, bei hoch spezialisierten Eingriffen nicht", sagt Schwarz. Davon würde letztlich auch der Patient profitieren.

Für Haas ist es ein Problem, dass nur die stationären Leistungen finanziert werden und nicht die ambulanten. Bei einem Schlaganfall beispielsweise würde man mehr Punkte bekommen, wenn der Patient in einer "stroke unit", einer Abteilung zur speziellen Überwachung und Kontrolle, aufgenommen wird. "Es gibt Bestrebungen, den Wildwuchs an Spitalsbetten einzudämmen oder die Kosten der stationären Krankenhausversorgung ans BIP zu binden, damit diese nicht weiter steigen dürfen als die Wirtschaftsleistung. Das hat aber keine Zähne, es können keine Sanktionen gesetzt werden."

"Ein Tarif führt zu einer Leistungssteuerung", führt Schwarz außerdem aus. Ein Beispiel sei die Rate an Kaiserschnitten bei Geburten. Wenn man das System ändere, würde sich auch das Leistungsangebot ändern. "Das ist ethisch in einem gewissen Rahmen vertretbar. Bei einem besseren Tarif gibt es eher die Tendenz, diesen zu nehmen und nicht den schlechteren." Eine laufende Anpassung sei daher wichtig.

Seyer bemängelt, dass in diesem System neue Prozesse nur schwer berücksichtigt werden können: "Das Ganze ist ein sehr träges System. Es wird sehr lange diskutiert, bis sich etwas ändert." (Clemens Triltsch, derStandard.at, 10.7.2012)