Der Fall Michel Friedman wirft viele Fragen auf. Vor zwei Wochen fand man laut Zeitungsberichten bei einer Hausdurchsuchung der Wohnung und des Büros des TV-Moderators, ("Vorsicht! Friedman") drei "szenetypische" Säckchen mit Resten eines Kokaingemisches, eine Haarprobe sei auch "positiv" gewesen. Er soll auch im Rotlichtmilieu mit Prostituierten verkehrt haben, die durch einen ukrainisch-polnischen Menschenhändlerring nach Deutschland eingeschleust wurden. All das wurde keineswegs offiziell bekannt gegeben oder bestätigt. Die Gerüchte haben Unbekannte aus dem Dunstkreis der Polizei und/oder der Anklagebehörde diversen Zeitungen zugespielt. Friedman selbst ist auf der Flucht vor der Öffentlichkeit. Sein Anwalt wirft der Berliner Staatsanwaltschaft eine "öffentliche Hinrichtung" vor.

 

Warum schlägt nun dieser Fall so hohe Wellen in den Medien und auch in der Politik? Friedman ist weit mehr als ein provokanter und aggressiver TV-Moderator. Als Vizepräsident des Zentralrats der Juden in Deutschland und seit einiger Zeit auch Präsident des Europäisch-Jüdischen Kongresses gilt Friedman, der in Frankreich geborene Sohn polnisch-jüdischer Überlebender des Holocausts, als der mit Abstand bekannteste und umstrittenste Vertreter des Judentums in Deutschland.

Diese Tatsache verleiht der ganzen Angelegenheit eine besondere Brisanz. Vom Massenblatt Bild bis zu den Wochenmagazinen Spiegel und Focus berichten die deutschen Zeitungen in langen und sensationell aufgemachten Artikeln über jede Wendung der undurchsichtigen Angelegenheit. Der blitzgescheite und arrogante, polyglotte und schlagfertige Anwalt (kurze Zeit auch CDU-Vorstandsmitglied) polarisierte nicht nur die Fernsehzuschauer, sondern auch jene, die ihn - wie der Verfasser dieser Kolumne - bei diversen Konferenzen (z. B. beim Deutsch-Jüdischen Dialog) erlebt haben. Nun werfen manche deutsche und österreichische Journalisten deutschen Medien hinsichtlich der Berichterstattung über die Drogenvorwürfe gegen Friedman antisemitische Stimmungsmache vor. Unabhängig vom Ausgang der Untersuchung bzw. von den strafrechtlichen Konsequenzen und sogar unabhängig davon auch, ob und wie weit bei der Berichterstattung bewusste oder unbewusste antisemitische Ressentiments mitgespielt haben, dürfte Friedman kaum je wieder als angesehener Sprecher der deutschen und gar der europäischen Juden auftreten. Natürlich werden die Antisemiten kaum verhüllte Schadenfreude empfinden, während die Demokraten und vor allem die meisten Juden selbst wohl schockiert sind. So wie bei ähnlichen Fällen von tatsächlichen oder mutmaßlichen moralischen Verfehlungen von prominenten Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens kann man zu Recht oder zu Unrecht von einer "Hetzjagd" der Medien sprechen. Das ändert aber an der Tatsache nichts, dass für die Spitzenrepräsentanten des Judentums im Allgemeinen und erst recht in Deutschland andere Maßstäbe gelten müssen als für Politiker oder Unternehmer. Sie müssen auch in ihrem Lebensstil und Privatleben untadelig sein.

Die reichen Vorsitzenden jüdischer Gemeinden von Bronfman und Lauda in Amerika bis zu Ariel Muzicant hierzulande sind durch ihre Funktion und auch durch den Stil ihres Eintretens für die Sache der Opfer oder ihrer Nachkommen in den Augen einer oft gleichgültigen Öffentlichkeit stets umstritten. Sie sprechen, leben und handeln unter einem Vergrößerungsglas. In diesem Sinne ist der Fall Friedman auch eine Mahnung an alle, die jetzt oder in der Zukunft als Wortführer gegen Antisemitismus und Fremdenhass und für die Sache der Minderheiten eintreten. (DER STANDARD, Printausgabe, 26.6.2003)