Ein Namenloser inmitten weiter Landschaft, die ihn allmählich zurück ins Leben holt

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... und erzählt diese Geschichte zuallererst über das Verhältnis seines Protagonisten zum Raum.


Wien - Jemand verlässt die Stadt. Der Verkehr dünnt allmählich aus, und es beginnt das karge Hinterland von Mexiko. Jemand ist aufgebrochen, um zu sterben, am Sierra Tarahumara Canyon, der die Landschaft wie eine Narbe durchzieht. Warum die Wahl des Namenlosen auf diesen Ort fiel, bleibt unklar, ebenso seine Motivation: Die Natur scheint den Riss in seinem Inneren zu reflektieren.

Japón lautet der geheimnisvolle Titel des Debüts des Mexikaners Carlos Reygadas. Der Film erzählt die Geschichte dieses Lebensmüden zuallererst über Landschaftsbilder, über das Verhältnis des Protagonisten zum Raum. Auf selten verwendetem Super-Cinemascope gedreht, durchmisst er die Natur in 360-Grad-Schwenks, verliert sich aber auch in Nahaufnahmen, in denen die Materialität der Dinge zum Vorschein kommt.

Unweigerlich denkt man an Abbas Kiarostamis Der Geschmack der Kirschen, doch der Selbstmörder aus Japón will nicht so viel reden. Reygadas sucht keine Auseinandersetzung, er beschränkt sich auf den existenziellen Drang seiner Figur: Vom Haus einer älteren Frau am Rande des Canyons bricht der Fremde humpelnd auf ausgedehnte Wanderungen auf.

Die Natur ist in Japón in einem sehr faktischen Sinn präsent: Ein Schwein wird geschlachtet, Pferde kopulieren. Bilder vom Leben und Tod verfolgen den Wanderer und wirken seinem Versuch entgegen, sich von der Welt zurückzuziehen. Denn hinter ihrer erhabenen Oberfläche wirkt ein triebhaftes Gesetz, von dem sich auch er nicht lösen kann: Neben dem Kadaver eines Pferdes sinkt er zu Boden, die Kamera löst sich im Helikopterflug und bettet ihn in die Landschaft ein.

Deutlicher wird dieses Prinzip noch im Verhältnis zu Ascen, seiner Gastgeberin: Mit ihrer Geduld und ihrem naiven Glauben verkörpert sie das Gegenteil ihres Gasts. Zu den schönsten Aspekten von Japón gehört die stille Beziehung, das fast wortlose Einverständnis zwischen diesen ungleichen Menschen - Magdalena Flores und Alejandro Ferretis sind Laiendarsteller.

Die Libido wird zum größten Hindernis für das Projekt des Mannes. Irgendwann bittet er schließlich Ascen darum, mit ihm zu schlafen. Reygadas inszeniert die ungewöhnliche Sexszene als lange Anleitung zu einer unmöglichen Stellung.

Die körperliche Nähe wird dennoch zum Ventil für unterdrückte Affekte. Nicht nur in dieser Szene ist es der Ton, mit dem Wahrnehmungen oft verstärkt oder auch irritiert werden. Am Ende des Films, der im vergangenen Jahr zum Überraschungshit auf Festivals wurde, wird offensichtlich, dass das Leben von diesem Fremden nicht ablässt, denn er entwickelt wieder Engagement, indem er sich um Ascen zu kümmern beginnt.

Wie Reygadas den Film in einer dokumentarischen Szene schließlich fast zum Stillstand kommen lässt, um dann mit einem Stück Arvo Pärts in einer fulminanten Sequenz, die in Kreisbewegungen an Schienen entlang führt, einen symbolischen Tausch anzudeuten, gehört zu den eindrucksstärksten Momenten des jüngeren Kinos. (DER STANDARD, Printausgabe, 27.6.2003)