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Mitglieder der Wahlkommission registrieren vor der Auszählung in Bengasi die gesammelten Wahlzettel.

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Auch in Sirte, einer früheren Hochburg von Diktator Gaddafi, wurde mit hoher Beteiligung gewählt.

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Jason Pack: "Die Revolution gegen das alte Regime hat den Frauen nicht etwa neue Rechte gebracht, sondern hat die Gesellschaft viel konservativer gemacht."

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Dass in Libyen am Samstag überhaupt gewählt wurde, sei schon ein unglaublicher Erfolg, sagt der US-amerikanische Libyen-Forscher Jason Pack, der an der englischen Universität Cambridge forscht. Davon abgesehen liege im Jahr eins nach Gaddafi noch vieles im Argen, der zukünftige Status der widerstrebenden Provinzen sei unklar, selbst die Art des politischen Systems stehe noch in den Sternen. derStandard.at hat Pack im Urlaub in Frankreich erreicht und zum Interview gebeten.

derStandard.at: Die "New York Times" sieht in dem vermutlichen Wahlsieg der liberalen Allianz von Mahmud Jibril in Libyen einen Fels in der islamistischen Brandung, die seit dem Arabischen Frühling konservative Kräfte in die neuerdings demokratisch gewählten Parlamente der Region spült. Richtig?

Jason Pack: Wer das so sieht, der missversteht das libysche Wahlsystem, das nur zum Teil auf Parteilisten beruht, zum Großteil aber auf der lokalen Kandidatur von Einzelpersonen. Das ist ein großer Unterschied zu den Wahlen in Tunesien und Ägypten. Man kann theoretisch auf Parteiebene gewinnen und trotzdem keine Mehrheit im Parlament haben, weil die Abgeordneten, die in den Bezirken gewählt wurden, anders stimmen.

Zum anderen gibt es in Libyen keine wirklichen "Religiösen" oder "Säkularen", alle halten die Scharia zum Beispiel für die Grundlage der Rechtsprechung, auch die sogenannten Liberalen und Technokraten. Es hat auch fast keine Parteimobilisierung stattgefunden, die Leute haben in ihren Bezirken meistens jene Kandidaten gewählt, die sie kennen. Zudem hatten die Islamisten in Libyen einen weit weniger hohen Organisationsgrad als etwa im Ägypten von Mubarak oder in Tunesien unter Ben Ali.

derStandard.at: Die Wahlbeteiligung lag bei etwa 60 Prozent. Ist das alleine nicht schon ein riesiger Erfolg?

Pack: Definitiv. Seit dem Tod Gaddafis hat der Nationale Übergangsrat allmählich und kontinuierlich Macht an die lokalen Milizen abgeben müssen. Es war mehr als ungewiss, ob die zentrale Wahlbehörde überhaupt genug Autorität besitzt, eine solche Wahl durchzuführen. Darum wurde der Wahltermin anfangs auch vom 19. Juni auf den 7. Juli verschoben. Die relativ hohe Wahlbeteiligung die am 7. Juli erreicht wurde ist eine große Errungenschaft für Libyen und gibt der neuen Führung wesentlich mehr Legitimität, Legitimität die sie auch braucht um schwierige Entscheidungen zu treffen.

derStandard.at: Ist die Gefahr, dass Libyen in zwei oder mehr Teile zerfällt, gebannt?

Pack: Der Diskurs in Libyen dreht sich weit stärker um Föderalismus als um regionale Unabhängigkeit. Auch die Föderalisten in der Cyrenaika, die am Tag vor der Wahl einen Hubschrauber abgeschossen haben, streben nicht wirklich einen eigenen Staat an, sondern wollen eine gleichgestellte Vertretung mit Tripolitanien und eine sehr dezentralisierte Regierungsform. Sie fordern zum Beispiel gleich viele Sitze im Parlament, obwohl die Cyrenaika nicht einmal ein Drittel der Bevölkerung hat. Ich glaube nicht, dass eine Aufspaltung Libyens machbar ist, es funktioniert schon nicht in puncto Infrastruktur.

Der springende Punkt wird sein, wie sich diese Konflikte in der neuen Verfassung niederschlagen. Die Unionisten, die sich einen starken Zentralstaat wünschen, müssen natürlich Kompromisse jedenfalls gegenüber moderateren Cyrenaika-Föderalisten eingehen, damit es dort nicht zu Aufständen kommt. Das bedeutet sicher eine Dezentralisierung der Macht, hoffentlich nicht zu viel Dezentralisierung, damit das Land nicht unregierbar wird, wie es zwischen 1951 und 1963 war, als Libyen ein föderalistischer Staat war.

derStandard.at: Die Parteilisten hatten eine 50-prozentige Frauenquote implementiert. Das klingt relativ ambitioniert. Wird sich ein solch progressiver Geist durchsetzen können?

Pack: Es war nicht wirklich eine Quote, sondern die Parteien mussten auf jeden Mann eine Frau folgen lassen. Listenerste waren immer Männer. Und diese Regel galt ja nur für die Parteilisten. Kaum eine Frau hat aber für einen der 120 Regionalsitze kandidiert, das heißt, von den insgesamt 200 Abgeordneten werden etwa 30 bis 40 Frauen sein, was ich nicht für besonders ambitioniert halte. Andererseits wären ohne dieses Gesetz wohl fast gar keine Frauen gewählt worden, insofern hat es seinen Zweck wohl erfüllt.

Unter Gaddafis Regime waren Frauen Männern weitgehend gleichgestellt, sie arbeiteten in Ministerien, lenkten Autos, es war zwar üblich, den Hijab zu tragen, Vollverschleierung war aber sehr selten. Die Revolution gegen das alte Regime hat den Frauen nicht etwa neue Rechte gebracht, sondern hat die Gesellschaft viel konservativer gemacht. Trotzdem werden Frauen im neuen Libyen eine Rolle spielen, sie waren wichtig für die Revolution und für den politischen Prozess danach. Wie viele Frauen in dem Komitee sitzen werden, das die neue Verfassung ausarbeitet, ist bisher aber nicht bekannt.

derStandard.at: Was erwarten Sie sich von der neuen Verfassung?

Pack: Nicht einmal die Libyer selber wissen, was dort drinstehen wird. Derzeit überwiegt das Chaos. Die Verfassungskommission wird sich wohl an der Verfassung von 1951 orientieren, die nach der UN-Entscheidung von 1949 über die Vereinigung der drei Provinzen Libyens geschrieben wurde. Großbritannien hat sich damals dafür starkgemacht, dass die Cyrenaika und Fezzan (Südwestprovinz, Anm.) gleich viele Stimmen in der Kommission erhalten wie Tripolitanien. Die 200 Köpfe zählende Nationalversammlung wird eine 60 Köpfe zählende Verfassungskommission ernennen, also 20 für jede Provinz.

Das spricht stark für ein föderalistisches System, das ich für schlecht halte, weil es in Libyen nicht funktionieren kann. Ob es ein parlamentarisches oder ein präsidiales System werden wird, steht ebenfalls in den Sternen. Sogar in Ägypten, das institutionell viel weiter ist als Libyen, ist nicht klar, wohin der Weg führt. In der Bevölkerung meine ich eine Tendenz für Parlamentarismus auszumachen, weil sie in einem starken Präsidenten die Gefahr der Diktatur wittern. Aber das ist in ganz Nordafrika so.

derStandard.at: 42 Jahre lang wurde den Libyern von oben herab Angst vor einem Parteiensystem und vor politischer Partizipation gemacht. Ist diese Angst mit einem Schlag verschwunden?

Pack: Es stimmt natürlich, dass die Ideologie von Gaddafi lange auf diese Menschen eingewirkt hat. Wirklich geglaubt haben ihm aber auch vor der Revolution nicht viele Menschen. Das Problem liegt eher in der mangelnden Erfahrung in angewandter Demokratie. Wir beobachten jetzt, dass sich die Menschen eher an traditionelle, lokale, regionale oder stammespolitische Koalitionen wenden. Politische Plattformen, die einen Querschnitt der Bevölkerung abbilden und sich hinter einem Programm versammeln, sind kaum zu sehen.

Die Jibril-Partei und andere haben zwar viel in politische Aufklärung investiert, politische Debatten veranstaltet und so weiter. Diese Dinge werden aber Jahre dauern. Libyen befindet sich im Übergang zum Übergang. Die nächste Regierung 2013 wird sicher mehr Legitimation haben als die jetzt gewählte, weil die Regeln, nach denen sie gewählt werden wird, dann mit der neuen Verfassung auch demokratisch bestimmt worden sind. Demokratisierung ist ein mühsamer Prozess, ein Schritt vor, zwei zurück, dann vielleicht wieder drei Schritte vor. Und Libyen hat weit mehr aufzuholen als andere Länder der Region. (Florian Niederndorfer, derStandard.at, 9.7.2012)