Verglichen mit den biblischen Plagen stellte Gott seine Jünger diese Tage mit der sengenden Hitze in Wien vor eine relativ kleine Herausforderung. Wobei Gott hier vielleicht nicht der ganz richtige Begriff ist. Für seine Zeugen, die sich am Wochenende zum Bezirkskongress im Ernst-Happel-Stadion treffen, ist sein einzig wahrer Name Jehova.

Foto: derStandard.at/Michael Matzenberger

Zehntausend Mitglieder der 2009 als Bekenntnisgemeinschaft anerkannten Religion kommen hier von Freitag bis Sonntag zur Belehrung aus der heiligen Schrift und zur Taufe neuer Angehöriger zusammen. Sie leben zum Hauptteil in Wien und Umgebung. Für Jehovas Zeugen aus den anderen Teilen Österreichs werden in Graz, Wels, St. Pölten, Villach und Innsbruck weitere Kongresse abgehalten.

Manche besuchen auch mehrere der Kongresse. So werden heuer über 30.000 Menschen an den Kongressen teilgenommen haben, obwohl die Mitgliederzahl in Österreich derzeit nur bei rund 20.000 liegt.

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Damit sind sie die fünftgrößte Glaubensrichtung im Land, erzählen mir die Pressevertreter Hannes Weinberger, Peter und Eva Lenz in den Katakomben des Stadions. Ich werde großzügig bewirtschaftet und erhalte Komplimente für meinen Fotoblog.

Draußen vor den Tribünen ist gerade Mittagspause. Später wird von den Rednerpulten hinter den beiden Toren und an den Seitenoutlinien wieder in vier Sprachen gleichzeitig vorgetragen. Die meisten Zuhörer sitzen auf den Rängen vor den deutschsprachigen Rednern, merklich in Unterzahl ist das englisch-, serbokroatisch- und polnischsprachige Publikum.

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Manchmal finden hier auch internationale Kongresse statt, dann mit bis zu 40.000 Besuchern. Das Happel-Stadion überlässt der Betreiber den Zeugen Jehovas günstiger als üblich. Das liegt daran, dass sie das Oval vor und nach dem Wochenende von einem Putztrupp aus 2.000 Mitgliedern reinigen lassen. "Wir verlassen das Stadion genauso sauber, wie wir es zuvor geputzt haben", sagt Peter Lenz und lacht.

Auch die Besucher haben sich herausgeputzt und sind adrett gekleidet, die Männer durchwegs mit Krawatten und Hemden, auf denen sich bei der Hitze nicht selten Schweißflecke bis auf die Rücken ausbreiten.

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An einigen Ecken auf den Rängen stehen Holzboxen mit der Aufschrift "Spenden". Finanziert wird der Kongress ausschließlich durch freiwillige Gaben, sagt Peter Lenz.

Lenz ist als sogenannter "Ältester" in einer Seelsorgerfunktion innerhalb der Organisation. Frauen können laut biblischer Lehre keine "Ältesten" werden. Wie sie das sieht, frage ich Eva Lenz. Sie versteht es, denn das sei ein verantwortungsvoller und kein einfacher Job und Frauen würden bis auf die Führung ebenso wichtige Aufgaben übernehmen.

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Es ist ungewohnt, ganz ohne Eintrittskarte oder Personenkontrolle ins Happel-Stadion zu spazieren. Jehovas Zeugen wollen ihre Tore aber für alle offenhalten und haben auch keine Angst, dass hier böse gesinnte Menschen auftauchen, sagt Hannes Weinberger - Jehova würde seine schützende Hand über die Veranstaltung halten.

Wenn Gott allmächtig ist, warum liegt die Welt dann "im Argen", wie die Presseleute versichern? Weil die "Urschlange" Satan seine Hände im Spiel hat und auch der Mensch Eigenverantwortung besitzt, erklärt Peter Lenz. "Das Herz des Menschen ist verräterisch", sagt er und verweist auf das Motto der diesjährigen Kongressserie: "Behüte dein Herz"

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Rund 60 Menschen werden während des Kongresses getauft und treten mit diesem Ritus den Zeugen Jehovas bei. Konvertiten von anderen Religionen sind dabei in der Minderzahl. Meistens sind es Nachkommen von bereits getauften Mitgliedern. Anders als bei den meisten Konfessionen werden die Kinder von Zeugen Jehovas nicht schon kurz nach der Geburt in die Religion eingeführt, sondern sollen frei entscheiden, wenn sie mündig sind.

Das Ehepaar Lenz etwa hat vier Kinder, drei von ihnen sind ohne Bekenntnis, eines ist auch Zeuge Jehovas.

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Die Zeugen Jehovas legen die Bibel wörtlich aus und glauben an die baldige Wiederkehr Jesu Christi ("Harmagedon") und die Einrichtung seiner tausendjährigen Herrschaft. Für ihre moralischen Richtlinien steht die in den USA der 1870er Jahre von Charles Taze Russell gegründete Organisation auch heute noch oft in der Kritik. Sie lehnen etwa die Teilnahme an Wahlen, den Umgang mit ehemaligen Mitgliedern und Bluttransfusionen ab und verfolgen eine ausgeprägte Missionstätigkeit.

Sie leisten auch keinen Kriegsdienst, und weil im Dritten Reich noch die Verweigerung des Hitlergrußes dazukam, wurden viele der damals noch "Ernste Bibelforscher" genannten Gläubigen verfolgt und in Konzentrationslagern hingerichtet.

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Gottes Wort sei wahr, weil es immer Bibelstellen gibt, die sich aufeinander beziehen und sich gegenseitig bestätigen, sagt Hannes Weinberger. Ich kann mich nicht mit dem Gedanken anfreunden, eine Behauptung in einem Buch mit einer anderen Behauptung im selben Buch zu beweisen, und so verstricken wir uns am Taufbecken, in dem bisher nur knöcheltief Wasser steht, in eine Diskussion über den Wahrheitsgehalt der Bibel.

Ich frage nach dem fünften Buch Mose, wo unter dem Speiseverbot "Alle reinen Vögel dürft ihr essen. Diese aber sind es, von denen ihr nicht essen sollt" neben Adlern, dem Käuzchen und dem Schwan auch die Fledermaus aufgezählt wird. Heute wissen wir, dass die Fledermaus kein Vogel ist. Vielleicht wussten es die, die Gottes Wort niedergeschrieben haben, einfach noch nicht, und die Bibel ist tatsächlich bloß ein Werk der Menschen, werfe ich ein. Weinberger ist diese Stelle auf Anhieb leider nicht bekannt.*

 

* Herr Weinberger hat mich nach der Veröffentlichung auf eine andere Version dieser Stelle hingewiesen. Dort heißt es: "Und diese sind es, die ihr verabscheuen werdet unter den fliegenden Geschöpfen, sie sollten nicht gegessen werden, sie sind etwas Widerliches". Nun, "fliegende Geschöpfe" sind Fledermäuse zweifellos. Dass verschiedene Übersetzungen, die Verschiedenes bedeuten, nebeneinander als "wahr" angenommen werden, macht für mich diese einzige Wahrheit nicht glaubhafter, aber ich möchte so fair sein und die Erklärung hier nicht auslassen.

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Ich bin mit einer Portion Skepsis hierhergekommen und die Skepsis über das, woran Jehovas Zeugen glauben, ist geblieben. Was ich allerdings nicht bestreiten kann: Die meisten Menschen sahen glücklich aus und ich glaube nicht, dass sie nur so wirkten.

Vielleicht liegt das an ihrem Glauben und ihren moralischen Werten. Vielleicht aber auch nur an der momentanen Freude über die große Zusammenkunft mit ihren "Brüdern und Schwestern". Vielleicht haben sie am Montagmorgen in der U-Bahn wieder dasselbe fade Aug wie alle anderen auch. (Michael Matzenberger, derStandard.at, 7.7.2012)

Link
www.zeugen-jehovas.at

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