Verwischt den Übergang zwischen Spielfiktion und Fiktionsspiel: Franziska Gerstenberg.

Foto: Gerstenberg

Es soll wohl eine heftige Diagnose sein, wie die Provinz des Menschen im digitalen, virtuellen Wohnblock von heute aussieht. Alle Figuren sind im Grunde einsam, unbeweglich.

"Lass mich dein Bauer sein", flüstert ein Mann, "dein Tiroler Speck." Ebenso abrupt wie plump beginnt der erste Roman von Franziska Gerstenberg, die in Deutschland als Erzähltalent im Sog des Erfolgs von Judith Hermann gehandelt wird. Spiel mit ihr wirft das Titelschlaglicht auf einen Homo ludens des Internetzeitalters, als wolle sich Gerstenberg in einer heutigen Variante von "Das Leben ist ein Spiel, wer es weiß, ist klug" versuchen. Von Anfang an geht es bei ihr allerdings computerlinkisch und bodenständig zu.

Die "Erfüllung eines Wunsches" sei "nie mehr als drei, vier Bewegungen auf der Tastatur entfernt"; das gestellte fremde Leben folgt dem Klischee: "Die Kuh schlägt mit dem Schwanz nach Fliegen. Sie ist prächtig, sehr sauber, das Euter sieht aus, als hätte es gerade jemand gewaschen. Ein schwindelerregender Blick vom Berg ins Tal hinunter." Prächtig?

Reinhard, ein fünfzigjähriger Rechtsanwalt, hat sich nach erkaltetem, lange erregungslosem Eheleben und nach der Scheidung in die Sexschleifen des Internets begeben und dort Kristine gefunden, die er nun unverfroren für seine Rollenspiele benützt. Sie macht mit, da sie sich letztlich doch eine Partnerschaft erhofft, um mit ihrer kleinen Tochter Emma nicht allein dazustehen.

Schafft Gerstenberg im ersten Kapitel noch eine eigene Stimmung, indem sie den Übergang zwischen Spielfiktion und Fiktionsspiel, also Sexverkleidung und Realität, leicht zu verwischen versteht, so wirkt die Folge zu durchschaubar. Jedes zweite Kapitel führt den seltsamen Nachbarn Meisner vor, der verhaltensgestört ist und autistisch in der Enge seiner vier Wände steckt - bis das kleine Biest Emma einfach reinmarschiert und sofort das Kommando übernimmt, während sich zu Hause ihre Mama Kristine von Reinhard herumkommandieren lässt.  Emma durchwühlt Meisners Wohnung und setzt ihn immer stärker unter Druck. Sie ballt die Fäuste in den Hosentaschen, zwingt den vom Leben völlig Überforderten zu erklären, sie sei seine einzige Freundin, lacht ihn aus und sagt: "Ich brauche dich übrigens überhaupt nicht."

So plakativ, so vorhersehbar die Handlung, bis Reinhard das Spielbegehren überspannt. Kristine begehrt dagegen auf, als Fantasiezugpferdchen zu dienen; Emma verschwindet - das Lesepublikum erfährt, wo sie steckt -, und dem Nachbarn, der nicht weiß, wie ihm geschieht, wird die Pädophilie umgehängt.

Es soll wohl eine heftige Diagnose sein, wie die Provinz des Menschen im digitalen, virtuellen Wohnblock von heute aussieht. Alle Figuren sind im Grunde einsam, alle unbeweglich. Und alle sind Figuren, als hätte ihre Erfinderin Schablonen vor Augen gehabt. Kaum Gefühle, keine Erotik, alles so kalt: "Beim Küssen presste er die Zungenspitze erst leicht, dann stärker gegen eine scharfe Kante ihres Schneidezahns. Gleichzeitig machte er die Augen auf. Wirkt Kristines Schlafzimmer düster, weil die Vorhänge zugezogen sind? Oder liegt es am Teppich?" Da ist einer nicht bei der Sache und stellt sich bewegende Fragen.

Bei der Sache soll offenbar die Sprache sein. Franziska Gerstenberg meint wohl, der Oberflächlichkeit ihres Personals sowie unserer Gesellschaft mit der brav auktorialen Erzählung im Präsens die passende, nachvollziehbare Perspektive und einen adäquaten Stil zu geben, ohne Schnörkel, als könnte nichts zwischen den Zeilen stehen.

Dieser Duktus gibt jedoch nicht nur ein naives Vertrauen in die Sprache vor, sondern wirkt auch simpel nichtssagend. Einige Passagen scheinen gar geradewegs aus einem Schulaufsatz zu kommen ("Reinhard wollte seit Monaten im Volkspark spazieren gehen, aber er ist nie dazu gekommen. Heute ist an einen ruhigen Spaziergang nicht zu denken"). Zudem bleiben manche Dialoge im verzichtbaren Klischee stecken: "Ach danke, Reinhard. Für alles. Gute Nacht und schlaf gut. Bis Donnerstag. Bis bald. Reinhard." Und dann: "Sie fällt ihm um den Hals."

Ebenso einfach klingen die Nachrichten aus dem Inneren der Figuren: "Bis heute glaubt Reinhard nicht an das Konstrukt Familie. Er fühlt keinen Drang, eine neue Generation zu erschaffen und etwas weiterzugeben." Kurz: Was der Verlag als "Distanz und Respekt gegenüber den Figuren anpreist, erweist sich schlicht als flache Charakterzeichnung in einem erzählerischen Rollenspiel, das leichthin auf Effekt aus ist. In der zentralen Szene ruft Reinhard ins Telefon, sein Führerschein sei weg, und Kristine darauf: "Emma ist weg."

Wie recht hatte doch Sibylle Lewitscharoff, als sie sich letztes Jahr in ihrer Frankfurter Poetikvorlesung Vom Guten, Wahren und Schönen sowohl gegen die "Selbstfindungsapostel" der Gegenwartsliteratur als auch gegen den Stil der kurzen Sätze und der dauernden Präsensform ausgesprochen hat. Von der Sprachkunst forderte sie Einbildungskraft und kleine Wunder, damit eine heftige Fantasie vom Boden der Wirklichkeit abheben möge. Franziska Gerstenberg jedoch bleibt auf dem Boden ihrer Wohnblockprosa.   (Klaus Zeyringer, DER STANDARD, 7./8.7.2012)