Klagenfurt - Inger-Maria Mahlke hat am Freitag den zweiten Tag des Lesewettbewerbs um den Ingeborg-Bachmann-Preis im Klagenfurter ORF-Theater eröffnet und großes Lob einiger Juroren geerntet. Auch Cornelia Travnicek präsentierte einen Romanauszug, die Niederösterreicherin löste hitzige Debatten aus. Den Vormittag beschloss Olga Martynova preisverdächtig.  Den Nachmittag eröffnete Lisa Kränzler mit einer Pubertätsgeschichte, über den sich die große Mehrheit der Juroren begeistert zeigte. Simon Froehlings Romanauszug überzeugte hingegen nicht so recht.

Inger-Maria Mahlke

Die Protagonistin in Mahlkes Erzählung ist allein erziehende Mutter, ihr Sohn hat einen ausgesprochenen Ordnungssinn, fast als wäre er autistisch. Die Mutter erinnert sich an die Arbeit im Backshop, bis sie von einer Freundin dazu animiert wird, als Domina gutes Geld zu verdienen. Die Erzählung endet damit, dass die Frau das verdiente Geld auf zwei Haufen teilt, einer für sie, einer für den Sohn. Ob sie ihr geplantes Verschwinden durchführt, lässt Mahlke offen.

Die Beschreibungen blieben an der Oberfläche, konstatierte Hildegard Keller. Sie empfinde Respekt für die virtuose Beschreibung der Oberflächen, erschöpfe sich aber daran. Hubert Winkels hielt dagegen, die Übergänge der verschiedenen Welten würden wunderbar funktionieren. Corina Caduff fand es "ganz toll", dass der Text weder Moral noch Psychologie enthalte, die Ausweglosigkeit werde dadurch großartig beschrieben. Paul Jandl fand hingegen "sehr viel Moral", allerdings vielleicht etwas dick aufgetragen. Meike Feßmann kritisierte die Du-Perspektive, sie finde den Text "sprachlich öde". Burkhard Spinnen sah hingegen genau in der Du-Ansprache das "Toben", den Versuch, das Ungeheuerliche in Worte zu fassen. "Es geht um Gefühle in der strengen Kammer", stellte Daniela Strigl fest.

Cornelia Travnicek

In Travniceks "Junge Hunde" betrauert die Protagonistin den Tod ihres Hundes, während ihr Vater gerade ins Altersheim übersiedelt. Von diesem Punkt aus gibt es zahlreiche Rückblenden in die Erinnerungen des Mädchens, bis hin zu einem besoffenen Ausflug bei einer Party mit dem Auto der Erwachsenen, der mit einem Unfall samt totem Reh endet. Das Reh wird im See versenkt, der Blechschaden mit einer harmlosen Erklärung versehen.

Feßmann, die Travnicek nominiert hatte, lobte den "warmen Pragmatismus" der Geschichte. Das "scheinbar naive Erzählen" mochte Strigl sehr gerne, es gebe gute Einfälle, die Autorin arbeite mit einfachen Mitteln, die aber funktionieren würden. Winkels zeigte sich überzeugt von den "wunderbaren kleinen Handgriffen". Caduff hatte hingegen "ein Problem mit der Sprache", daran müsse die Autorin noch arbeiten. Die Sprache als Kunstraum sei nicht erschlossen, es fehle ihr der literarische Ton, das könne in ihrem Alter aber auch nicht anders sein. Jandl monierte, ihm erschließe sich nicht ganz, "wo der Hund begraben ist". Die Sprache sei "banal und simpel", tiefe Geheimnisse des Textes fand er nicht. Hildegard Keller meinte, sie könne die Einwände alle teilen, doch sie glaube, diese Leichtigkeit sei Programm, auch wenn es sie nicht "aus den Socken haut".

Olga Martynova

"Ich werde sagen: Hi!" der aus Russland stammenden Autorin Martynova beschreibt die Situation eines Burschen, der seine Ferien bei Tante und Onkel verbringt. Die beiden sind gut situiert und für Moritz eher langweilig. Er interessiert sich für Mädchen, aber auch für das Schreiben. Der Text enthält witzige Einschübe, thematisiert die Multikulturalität und macht Ausflüge zur Bibel und zur Archäologie.

Winkels gefiel der Text sehr gut, er habe eine Leichtigkeit, die sich aber nicht sofort erschließe. Strigl lobte den "hintersinnigen, anarchischen Witz". Feßmann sah einen "souveränen und luftigen Text". Jandl, der Martynova nominiert hatte, meinte, man erlebe "die Geburt eines Dichters durch die Erotik". Caduff lobte die Qualität der verwendeten Sprache, der Witz habe sich ihr übrigens erst durch den Vortrag erschlossen. Sie vermisse allerdings ein Konzept, manche Dinge würden auftauchen und einfach wieder verschwinden. 

Lisa Kränzler

Kränzlers Ich-Erzählerin beschreibt in "Willste abhauen" ihre Kindheit, von der Kindergarten-Aufführung über die Wirrungen einer Mädchenfreundschaft bis zur Rettung eines  Kätzchens vor einem grausamen Bauern. Sie stellt die Gefühle dar, die sich bei der beginnenden Pubertät einstellen und die ersten sexuellen Erfahrungen samt dem Thema Missbrauch.

Burkhard Spinnen meinte, ein großer Teil der Literatur bemühe sich, in die Kindheit zurückzukommen. Er sah einen "hoch instrumentierten Versuch" in diese Richtung. Das Thema sei mit großer Souveränität vorgeführt worden, das Geheimnis, das zur Heimat Kindheit dazugehöre, bleibe aber hinter dickem Glas verborgen. Meike Feßmann las den Text als "böse Mädchengeschichte", bei der es auch um das Thema Missbrauch gehe, und zwar auf mehreren Ebenen. Corina Caduff fühlte sich gespalten, die Sprache sei sehr interessant und "absolut durchgearbeitet", auf der Ebene der Thematik habe sie aber Schwierigkeiten. Hildegard Keller fand den Versuch packend und gelungen. Daniela Strigl zeigte sich von einigen Schilderungen sehr angetan, sie sei aber nicht an allen Stellen überzeugt.

Simon Froehling

Froehling beschreibt in seinem Romanauszug das Schicksal zweier Familien. Eine Frau stürzt beim Klettern ab und wird dabei tödlich verletzt. Der Autor lässt die Frau aus der Perspektive der bereits Gestorbenen sprechen. Sie hinterlässt einen Mann und eine kleine Tochter. Zugleich rettet sie einem jungen Mann das Leben, der wegen einer Niereninsuffizienz beinahe stirbt und eine Spenderniere braucht, und das knapp bevor er mit seiner Partnerin eine gemeinsame Wohnung beziehen will. Er überlebt, erhält die Transplantation, anschließend macht er sich auf die Suche nach der Person, der er sein Leben verdankt.

Keller bemängelte, die Figuren seien ihr zu blass, sie hätte gerne mehr gewusst. Strigl wiederum fand, es gebe zu viele Erklärungen. Paul Jandl übte scharfe Kritik und ortete gar "Kitsch", Spinnen hingegen erklärte, er finde die Anordnung interessant und würde dem Autor gerne weiter folgen. Auch Caduff fand lobende Worte, sie freue sich immer, wenn die Literatur Diskussionsthemen von außerhalb aufgreife und nicht sich selbst genug bleibe.  (APA, 6.7.2012)