ModeratorIn: Herzlich Willkommen! Wir begrüßen Christian Keuschnigg, den neuen Chef des IHS. Und wir begrüßen auch alle Userinnen und User. Der Chat kann beginnen.

Christian Keuschnigg: Ich freue mich sehr, dass ich heute mit Ihnen diskutieren darf, und hoffe, dass daraus auch interessante Einsichten hervorgehen.

UserInnenfrage per Mail: Gestern hat der ESM-Rettungsschirm das österreichische Parlament passiert. Nicht ohne laute Proteste von allen möglichen Seiten. Was halten Sie vom Rettungsschirm?

Christian Keuschnigg: Ich glaube, dass der Rettungsschirm eine sehr wichtige Institution ist. Er vergibt Kredite an bedrängte Länder, Zug um Zug gegen Reformen, die Strukturwandel und neues Wachstum ermöglichen sollen, damit die Tragfähigkeit der Schulden wiederhergestellt wird.

UserInnenfrage per Mail: Mario Monti hat in Aussicht gestellt, dass Italien ebenfalls unter den Rettungsschirm flüchten könnte. Halten Sie das für wahrscheinlich? Wenn ja, würde das nicht die Kapazitäten kräftig sprengen?

Christian Keuschnigg: Ob Italien unter den Rettungsschirm muss, hängt einerseits von einem glaubwürdigen Reformprogramm im Land selber ab, aber auch von der Kapazität des Rettungsschirms. Wenn diese zu klein ist, dann zweifeln die Kapitalmarktteilnehmer, dass sie tatsächlich ihr Geld zurückbekommen, und müssen daher hohe Zinsen verlangen. Die Kapazität müsste größer sein, um hohe Zinsen und damit noch größere Schwierigkeiten für Italien zu vermeiden.

UserInnenfrage per Mail: Die EZB entscheidet noch heute über den Leitzins. Die meisten Ökonomen gehen von einer Zinssenkung aus. Wenn Sie Orakel wären, was würden Sie voraussagen?

Christian Keuschnigg: Ich kann mir vorstellen, dass die EZB die Zinsen leicht senkt, um die derzeit notwendigen Anpassungen zu erleichtern. Die Zinsen sind schon niedrig, aber eine geringfügige Senkung könnte eine gewisse Erleichterung schaffen.

UserInnenfrage per Mail: Wie zufrieden sind Sie mit dem Krisenmanagement der EZB?

Christian Keuschnigg: Das Krisenmanagement der EZB ist unter anderem deswegen so unter Druck, weil andere Institutionen wie der ESM nicht schlagkräftig genug sind und daher die Probleme nicht vollständig lösen können. Wäre die Kapazität des ESM größer, dann könnte sich die EZB auch mehr auf ihre Kernfunktionen der Sicherung der Geldwertstabilität konzentrieren.

Larvatus prodeo: Die EU-Kommission will nicht nur die Staatsschulden vergemeinschaften, sondern zusätzlich auch noch die Bankschulden, indem sie eine „Bankenunion“ ausruft. Wäre es nicht besser, die Bankschulden in Eigenkapital zu verwandeln, also das Instrument der

Christian Keuschnigg: Für die langfristige Entwicklung ist die Bankenunion eine richtige Entscheidung, die die europäische Integration und wirtschaftliche Entwicklung stärkt. Sie ist wie eine Versicherung. Dabei muss man aber aufpassen, dass es nicht zu einer Quersubventionierung von Ländern mit starken Banken an Länder mit schwachen Banken kommt. In erster Linie sollten die Kosten der Bankensanierung von den Eigentümern getragen werden, die für die Entwicklung verantwortlich sind. Im nächsten Schritt kann eine gemeinsame Sanierung unter strikten Auflagen erfolgen.

runzelgeld: Die Anleihezinsen für Italien und Spanien steigen trotz der Gipfelbeschlüsse schon wieder kräftig. Müsste man sich nicht eine gänzlich andere Strategie überlegen, um die Krisenländer aus dem Schussfeld der Spekulation zu bringen?

Christian Keuschnigg: Die Zinsen von einem übertriebenen Niveau herunterzubringen hat größte Priorität. Länder wie Italien können ihre Schulden bei angemessenen niedrigen Zinsen bedienen, aber nicht mehr, wenn sie übertrieben ansteigen. Damit die Zinsen niedrig bleiben können, müssen die Kapitalmarktteilnehmer Vertrauen in die Rückzahlung haben. Die einzige Strategie dazu sind Reformen im Land selber und Überbrückungskredite durch den ESM unter Auflagen. Alle anderen Strategien packen das Problem nicht an der Wurzel an, da erst mit Reformen und neuem Wachstum die Zahlungsfähigkeit wieder hergestellt werden kann.

UserInnenfrage per Mail: Warum kümmert sich die Politik immer nur um die Finanzmärkte? Wäre es nicht Zeit, da endlich einmal aufzuräumen und sich vom Gängelband der Märkte zu lösen?

Christian Keuschnigg: Dem stimme ich zu. Aber um dem Diktat der Finanzmärkte zu entkommen, braucht es wirtschaftliche Stärke und niedrige Schulden. Genau aus dem Grund haben Länder wie Deutschland und Österreich phänomenal niedrige Zinsen und haben überhaupt kein Problem mit den Finanzmärkten.

Hanken: Uns wird immer eingetrichtert, die "Märkte" seien ganz normale Anleger. Glauben die Anleger, die zu großen Teilen in der Eurozone leben, gar nicht mehr an die gemeinsame Währungsunion?

Christian Keuschnigg: Die hohen Zinsen sind ein Ausdruck mangelnden Vertrauens. Daher braucht es einerseits Reformen und andererseits eine Garantie durch die Gemeinschaft, z. B. durch den ESM. Wenn die Länder große Reformfortschritte machen, die es auch schon zu einem größeren Teil gegeben hat, und die Kapazität des ESM groß genug ist, dann sollte das Vertrauen wieder kommen.

Krautstampfer: Finden Sie es bedenklich, dass Politiker im Falle des ESM über etwas abstimmen, bei dem keiner wirklich weiß, was dahinter steckt?

Christian Keuschnigg: Zunächst finde ich es eine positive Entwicklung, dass die Abstimmung über den ESM erfolgreich war, aber es sollte natürlich allen klar sein, welche wichtigen Aufgaben der ESM zu erfüllen hat.

Hanken: Sparen ist eine Tugend! Aber bringt das den Spaniern - die gleich viel Schulden haben wie Ö - was, jetzt, wo 50 Prozent der Jugendlichen arbeitslos sind?

Christian Keuschnigg: Die 50 Prozent Jugendarbeitslosigkeit sind eine Katastrophe, aber nicht unbedingt durch das Sparen verursacht. Das größte Problem dabei ist der starre Arbeitsmarkt, der Entlassungen verhindert und deshalb gleichzeitig die Neueinstellung von Jugendlichen unmöglich macht. Die hohe Arbeitslosigkeit ist auch die Folge der mangelnden Wettbewerbsfähigkeit dieser Länder, welche das Wachstum blockiert. Weniger Sparen und mehr Nachfrage hilft hier nur beschränkt weiter.

UserInnenfrage per Mail: Österreich wurde wiederholt dafür kritisiert, dass die Menschen zu früh in Pension gehen. Jetzt zeigt sich bei den aktuellen Arbeitslosenzahlen, dass gerade bei den Älteren die Arbeitslosigkeit massiv steigt. Wie löst man dieses Dilemma?

Christian Keuschnigg: Weil die Menschen erfreulicherweise länger leben, gerät das Pensionssystem aus dem Gleichgewicht. Wenn man massive Beitragssteigerungen oder Pensionskürzungen vermeiden möchte, bleibt nur ein höheres Ruhestandsalter. Dies muss aber durch begleitende Maßnahmen auf dem Arbeitsmarkt unterstützt werden, wie z. B. mehr Training in Firmen und bei den Arbeitnehmern oder mehr Teilzeitarbeitsplätze.

Daniel Zehetner: Jeder kleine Sparer/jede kleine Sparerin erhält derzeit geringe Zinsen bei gleichzeitig höherer Inflation. Zahlen wir nicht damit für die Krise mit realem Kaufkraftverlust? Wird sich Ihrer Einschätzung nach die Inflation erhöhen und somit weiter vom

Christian Keuschnigg: Die niedrigen Zinsen und höhere Inflation benachteiligen die Sparer und schaffen Probleme für Pensionsfonds und Lebensversicherungen. Sie sind - hoffentlich - ein vorübergehendes Phänomen. Ich kann mir vorstellen, dass in Deutschland und begrenzt in Österreich über zwei, drei Jahre die Inflation etwas höher ist. Dies ist Teil der Korrektur der Ungleichgewichte in Europa. Im Süden müssen die Preise fallen und im Norden steigen, damit die Unterschiede in der Wettbewerbsfähigkeit ausgeglichen werden. Die Lohnsteigerungen und nachfolgende Inflation dürfen aber in Deutschland und in anderen Stabilitätsländern nicht übertrieben werden, damit die Arbeitslosigkeit nicht auch in diesen Ländern steigt.

lelalom: Warum tut man sich mit der Finanztransaktionssteuer eigentlich so schwer?

Christian Keuschnigg: Die Finanztransaktionssteuer ergibt Steuereinnahmen, die dringend benötigt werden. Sie liefert aber keinen nennenswerten Beitrag für die Stabilisierung der Banken und ist daher kein wichtiges Instrument,, um die Krise in der Eurozone an der Wurzel zu bekämpfen. Wenn sie kommt, dann sollte sie möglichst breitflächig eingeführt werden, damit nicht Kapital von den betroffenen Ländern abwandert.

Hanken: Herr Stronach hat in der ZIB 2 gesagt, er verstehe nicht, warum Staaten überhaupt Schulden machen. Warum ist das seit jeher so?

Christian Keuschnigg: Es gibt auch gute Gründe, Schulden zu machen, nämlich langfristige Großinvestitionen zu finanzieren oder in einer Rezession stabilisierend einzugreifen. Dazu braucht es aber einen klaren Rückzahlungsplan bei den Investitionen und entsprechende Überschüsse in den Boom-Phasen. Beides wurde leider beim Schuldenmachen vernachlässigt.

Steinbock1959: Wäre die FTS nicht enorm wichtig für die Eindämmung der Spekulation und für die Entschleunigung des Systems?

Christian Keuschnigg: Die FTS würde vermutlich den Hochfrequenzhandel etwas reduzieren, das ist aber nicht sicher. Im Übrigen hat der Wertpapierhandel auch die Funktion, Zinsunterschiede auszugleichen und damit für eine bessere Lenkung des Kapitals auf die produktivsten Verwendungen zu sorgen. Das wirkliche Problem ist die zu geringe Eigenkapitalisierung der Banken in Europa. Daher sind die Banken krisenanfällig, und entstehen Risiken für den Staat.

Tintifax der ... Druide!: Was halten Sie von einer Volksabstimmung zu Themen wie dem ESM? Koennen demokratische Instrumente bei derartig komplexen Fragestellungen ueberhaupt angewandt werden? Wie koennte man die Menschen so weit informieren, dass sie eine qualifizierte Entsc

Christian Keuschnigg: Es braucht demokratische Legitimation für die Einrichtung des ESM, entweder durch das gewählte Parlament oder eventuell auch Volksabstimmung. Neben dieser Grundsatzfrage muss aber die schnelle Einsatzfähigkeit des ESM durch entsprechende Unabhängigkeit gewährleistet sein, genauso wie für die Glaubwürdigkeit der Zentralbank die politische Unabhängigkeit wichtig ist.

Larvatus prodeo: Viele sehen die Krise Griechenlands im Euro begründet. Eine eigene griechische Währung könne flexibel abwerten und so das Land wieder wettbewerbsfähig machen. Deshalb wird immer lauter gefordert, Griechenland möge aus dem Euro austreten oder zuminde

Christian Keuschnigg: In Griechenland wurde leider vernachlässigt, dass mit dem Euro Wechselkursanpassungen wegfallen und daher die Löhne sich stärker an der Produktivität ausrichten müssen, damit das Land wettbewerbsfähig bleiben kann. In Österreich gilt der Grundsatz, dass Lohnsteigerungen auf Produktivitätssteigerung plus Abgeltung der Inflation beschränkt bleiben sollen. Das hat uns die Wettbewerbsfähigkeit gesichert und wurde leider in den südlichen Ländern über viele Jahre vernachlässigt. Jetzt hat sich ein großer Anpassungsdruck aufgestaut, der nicht ohne schmerzhafte Anpassungen bewältigt werden kann. Weder ein Verbleib im Euro noch ein Austritt können diese Anpassungen vermeiden, dazu dürfte auch eine grundsätzliche Reform der politischen Institutionen gehören.

UserInnenfrage per Mail: Glauben Sie, dass die internationalen Geldgeber die Sparprogramme für Griechenland lockern werden?

Christian Keuschnigg: Ich kann mir vorstellen, dass es allenfalls zu einer beschränkten zeitlichen Streckung der Sparprogramme kommen könnte. Dabei ist aber allen klar, dass damit der Zeitraum für die Bewältigung der Krise länger wird.

Scorch: Wäre es sinnvoll, zur Senkung des Zinsdrucks und zur Schwächung der Macht der Banken und Finanzmärkte der EZB zu erlauben, Kredite direkt an Staaten zu vergeben?

Christian Keuschnigg: Ich bin der Meinung, dass die Kreditvergabe an die Krisenländer nur über den ESM unter strikten Reformauflagen erfolgen soll. Die Steuerzahler, die den ESM kapitalisieren, müssen müssen sicher sein, dass es für diese Gelder und die geleisteten Garantien eine klare Gegenleistung in Form von Reformen gibt, damit die Chance auf vollständige Rückzahlung dieser Kredite gewahrt bleibt. Wenn die Kapazität des ESM groß genug ist, dann können auch die übrigen Kapitalmarktteilnehmer auf die Rückzahlung vertrauen und können sich mit geringeren Risikoprämien und Zinsen zufriedengeben. Eine EZB-Intervention ist nur notwendig, wenn die Entwicklung zu einer systemischen Krise ausartet, unter anderem auch, wenn die Kapazität des ESM zu gering bleibt.

Linkslinker Österreichfeind und Kulturbereicherer: Das IHS vertritt ja eher neoliberale Positionen. Hat die Krise aber nicht gezeigt, dass dieses System zu noch größeren Turbulenzen und noch größerer Verschuldung führt?

Christian Keuschnigg: Ich glaube nicht, dass das IHS "neoliberale" Positionen vertritt. Die Krise hat mindestens drei Ursachen: Auseinanderdriften der Wettbewerbsfähigkeit, zu geringe Eigenkapitalisierung der Banken in mehreren Ländern und einen Trend zur Staatsverschuldung. Um die Turbulenzen des Systems abzubauen, muss über einen längeren Zeitraum die Verschuldung des Staates, der Unternehmen und der privaten Haushalte abgebaut werden, damit niemand von den Finanzmärkten abhängig wird. Mehr Eigenkapital und weniger Verschuldung machen ein Land krisenrobust.

Linkslinker Österreichfeind und Kulturbereicherer: Der Sozialstaat ist seit langer Zeit der Wachstumsmotor (oder zumindest ein Teil davon) für Österreich, Deutschland und viele andere Länder. Jetzt allerdings geht alles in Richtung Sozialabbau. Ist der Sozialstaat auch für Sie ein Auslaufmodell?

Christian Keuschnigg: Der Sozialstaat ist keinesfalls ein Auslaufmodell, es geht immer nur um die richtige Abwägung zwischen Eigenvorsorge und dem öffentlichen Versicherungsschutz. Zum Beispiel ist die Absicherung gegen Arbeitslosigkeit auch deshalb notwendig, damit die Arbeitnehmer bereit sind, den schnelleren Strukturwandel als Folge von Innovation und Globalisierung mitzumachen. Der Sozialstaat hat auch produktive Aufgaben. Die Kernaufgabe ist der Schutz vor großen Einkommensrisiken, aber in einem angemessenen und tragbaren Umfang.

runzelgeld: Sg. Herr Keuschnigg, müssen am Ende der gesamten Bemühungen, die Eurzone in ruhigere Gewässer zu führen, tatsächlich so etwas wie die Vereinigten Staaten von Europa stehen?

Christian Keuschnigg: Es braucht eine Stärkung europäischer Institutionen dort, wo die nationale Wirtschaftspolitik Folgen für andere Länder hat. So soll z. B. der Fiskalpakt dafür sorgen, dass eine übermäßige Verschuldung in einem Land nicht zu einem Problem für die anderen wird. Ähnliches gilt z. B. auch für die Diskussion um die Bankenunion. Angesichts der Heterogenität Europas gehe ich davon aus, dass die Länder sehr unterschiedliche Ansprüche an die öffentlichen Aufgaben und den Umfang des Sozialstaats stellen, so dass der Großteil der Finanz- und Wirtschaftspolitik dezentral und daher bürgernah in den einzelenen Ländern selbst entschieden werden soll.

ModeratorIn: Das war's. Wir bedanken uns bei Christian Keuschnigg fürs Beantworten der Fragen, und bei den Userinnen und Usern für das Stellen derselben. Wie immer gab es zu viele Fragen und leider zu wenig Zeit. Auf Wiedersehen und schönen Nachmittag.

Christian Keuschnigg: Vielen Dank für die vielen interessanten, aber auch herausfordernden Fragen, die ich hoffentlich zur Zufriedenheit beantworten konnte.