Die Lust an der Magerkeit
Dünnsein ist das Schönheitsideal in der westlichen Überflussgesellschaft und Diäten für nahezu jeden eine Selbstverständlichkeit. Wie leicht es ist, Maß und Ziel vom Abnehmen aus den Augen zu verlieren, beschreibt Caroline Wendt. Sie ist die Mutter von Zwillingstöchtern, die beide in der Pubertät an Anorexie erkrankten und so lange hungerten, bis sie in Spezialkliniken eingeliefert werden mussten. Wie schleichend dieser Prozess abläuft, wie machtlos Angehörige sind und wie viel Sprengstoff Anorexie für ein Familienleben bedeutet, macht die betroffene Mutter deutlich. In diesem Buch geht es um Liebe und Schuldgefühle, um Kontrolle und Selbstwert, um Kräftemessen und Wettstreit. Wendt ist keine Schriftstellerin, sie verdichtet nicht, sondern beschreibt die Facetten der Misere in epischer Breite.
Ihre Tagebuchaufzeichnungen dienten ihr dabei als Grundlage. Der Kampf um die Klinik, die Lügen, die Wahl der richtigen Ärzte und Psychotherapeuten, Rückschläge und Hoffnungen: Irgendwann ist das Buch ein recht authentischer Psychokrimi, der seine Leser dem Happy End entgegenfiebern lässt. Und das gibt es, denn beide Töchter haben die Erkrankung überlebt. Wendts Buch ist auch ein Plädoyer für Verständnis und eine Einladung, Vorurteile gegen Magersüchtige abzubauen. (pok, DER STANDARD, 2.7.2012)
Buch: Caroline Wendt: "Ich kann nicht anders, Mama". Droemer/Knaur 2011; 283 S., 10,30 Euro