Ich interessiere mich nicht für Vögel, kaum mehr als für Pflanzen. Von allen Wissenschaften kann mir die Botanik am gestohlensten bleiben, aber auch die Ornithologie ist mir ziemlich egal. Ich vermute sogar, dass meine geringe Begeisterung für die Filme von Terrence Malick etwas mit seiner Leidenschaft für die Vogelbeobachtung zu tun haben könnte. Er liegt ja, wie man liest, immer in Texas im Busch. Vogelbeobachtung, Naturmystik, religiöse Übergeschnapptheit mit viel Kamerageblicke in irgendein Oben, das Schwebenlassen von Jessica Chastain, alles dasselbe Syndrom.

Dachte ich, ungefähr. Nun muss ich jedoch feststellen, dass  mein Desinteresse an Vögeln Ausnahmen hat. Im Einzelfall geht mir das Herz auf. Der Einzelfall sind eins, zwei, drei nistende Adler - Fischadler, Schreiadler, Osprey, die Unterschiede sind mir noch immer Hekuba - in ihren Horsten in Estland. Durch einen Link von Martin Post bei Google Plus kam ich darauf. Die Freunde bei Facebook fanden weitere Nester, dann eine Übersichtsseite, auf der auch Links sind zu anderen Vögel, auch einer zu Bären, die man aber nie sieht. Ich spreche von Webcams, Liveübertragung - ich verlinke die Bilder, wo das geht, zu den Cam-Seiten -, ich spreche von Vögeln wie diesen (Dank für den Screenshot an Thomas Groh, die Jungen sind inzwischen deutlich größer und grauer):

Oder diesen:

Oder diesen, das sind aber keine Adler, sondern Jungstörche:

(nicht direkt verlinkbar, hier der Link zur Uuml;bersichtsseite

Und hier die Bären, die man nicht sieht, es kreucht und fleucht aber eine Menge anderes Getier:

Warum aber geht mir angesichts dieser Bilder das Herz auf? Warum habe ich Links in meine Lesezeichenleite gesetzt und klicke mindestens einmal täglich darauf und behalte im Blick, was sich tut? Ja, ich beobachte mit Sorge, dass das Adlerkind in Nest zwei von oben ("Tooni", in diesem Moment funktioniert der Stream leider nicht) mal wieder allein ist. Ich freue mich, dass Mama oder Papa Adler in Richtung Kamera blickt. Ja, mein Interesse ist auch rein menschlich, tierlieb-anthropozentrisch. Es hat zudem einen voyeuristischen Aspekt: Der Vogel lebt im Ausschnitt, den die Kamera gibt, sein Leben im Sturm, ich sitze vor dem Rechner, wo es trocken und warm ist.

Da ist aber mehr. Eine typische Webcam-Faszination für die Liveness, rechts oben sind Datum und Uhrzeit im Bild, die Sekunden, Minuten, Stunde, Tage ticken herunter in schöner Gleichzeitigkeit zu den meinen, gehen nicht weg, solange ich da bin (außer natürlich, der Stream ist gerade kaputt); eine Gebanntheit durchs narrative Moment des Heranwachsens der Kinder kommt sicher dazu, ich freue mich auf den Moment der ersten Flugexperimente; gelegentlich stockt der Atem aufgrund vermuteter Gefährdung (kleiner Adler mit deinen Stummelflügeln, du bist sehr nahe am Nestrand!). Aber auch simplere Freuden, oder basaler, spielen in meine Lust an diesem Stream mit hinein: die schiere sinnliche Befriedigung der recht hoch aufgelösten Bilder vom Schwanken des Baums im Wind, der geradezu 3-D-artige Effekt, der sich durch die Bewegung ergibt; dazu das Rascheln der Blätter, die Geräusche der Welt, die nur Wald scheint in Estland, wo ich nie war und wahrscheinlich nie sein werde. 

Kleiner Ausschnitt also aus anderen Leben, an anderen Orten; ausgerechnet die Leben von Vögeln, die plötzlich anwesend sind in dem meinen; wie Freunde auf Facebook; wie Helden einer Serie, deren Ende nicht absehbar ist; Existenzteilnehmer anderer Art. Die Webcam führt mir vor Augen: Sie sind wirklich und da genug, um mir nahe zu sein. Ich interessiere mich nicht für Vögel, Fischadler, Schreiadler, Osprey, die Unterschiede sind mir noch immer Hekuba,  aber diese da gehen mich jetzt etwas an.