Carsten Jancker (links) und Dietmar Kühbauer diskutieren beim Wirten in der Wiener Schreyvogelgasse über die vielleicht schönste Hauptsache der Welt, die Fußball-EM.

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Wien - Man kann einen spielfreien Tag durchaus sinnvoll nützen. Die einzige Alternative zum Fußballschauen ist über Fußball reden. Dietmar Kühbauer und Carsten Jancker sind vom Fach. Der eine ist Trainer der Admira, der andere Sportmanager von Rapid, in seine Zuständigkeit fallen Amateure und Nachwuchs. Die beiden kennen einander, sie kickten im verwichenen Jahrtausend gemeinsam bei Rapid und später in Mattersburg. Rammbock und Mittelfeldmotor. Zuletzt haben sie sich vor einem Jahr getroffen. Auf irgendeinem Fußballplatz.

Es ist nicht so, dass Jancker und Kühbauer in Freizeit schwimmen, aber eine Stunde zwicken sie ab, um den Stammtisch des Standard zu beehren. Es ist High Noon, der Wirt des Holunderstrauchs kann sich an der Diskussion nicht beteiligen, das Mittagsgeschäft boomt. Sie sind nur zu zweit. Er und die Kellnerin. Der Wirt würde eine Viererkette brauchen.

Jancker bestellt einen doppelten Espresso mit Süßstoff, Kühbauer Holundersaft mit Leitungswasser. Günstiger geht's kaum. Sie hätten aus der Speisekarte vier Schweinsbraten und/oder neun Schnitzel wählen können, sie taten es aber nicht, lehnten eine Anfütterung höflich, aber doch kategorisch ab. Begründung: kein Hunger. Dagegen gibt es kein Argument. Jancker hat "mindestens 80 Prozent aller Partien" gesehen. " Meine Frau hat schon resigniert." Kühbauers Quote ist nicht ganz so eindrucksvoll. "Es gibt ein Leben abseits der EM. Wenn meine Frau sagt, wir gehen essen, kusche ich und gehe essen."

Reif für einen Titel

Da die Halbfinalpartien anstehen, drängt sich die Frage auf: Wer wird Europameister? Deutschland? Italien? Spanien? Portugal? Jancker tippt Deutschland, er legt aber Wert auf die Feststellung, "dass es nichts damit zu tun hat, dass ich Deutscher bin. Die Art, wie sie gespielt und sich durchgesetzt haben, war beeindruckend. Die Entwicklung ist sensationell, sie sind reif für einen Titel."

Der Österreicher Kühbauer widerspricht nicht. "Schön langsam kristallisieren sich die Deutschen als Favorit heraus. Sie haben sich am allerbesten präsentiert." Der Unterschied zu früher sei, "dass sie keinen reinen Zweckfußball mehr spielen. Sie sind zwar weit damit gekommen, aber wir haben uns alle geärgert, weil es nicht schön war. Jetzt spielen sie einen wunderbaren Fußball. Da wurde ein Mörderbalance geschaffen, die Teamchemie haut perfekt hin."

Trotz der Sturmspitze Mario Gomez werde hervorragend kombiniert, wobei Kühbauer schon auch eine Lanze für den Bayern-Angreifer bricht. "Mit ihm einen Doppelpass spielen ist schwierig. Aber er ist ein Top-Torjäger. Er ist halt da, wenn es um den Kuchen geht."

Den beiden Stammtischbrüdern ist die Kritik am Titelverteidiger Spanien nicht entgangen. Jancker hält diese "für ein Jammern auf hohem Level. Der Ball zirkuliert noch immer extrem gut, aber sie kommen nicht mehr so leicht in den Strafraum rein." Kühbauer macht sich um den Weltmeister keine Sorgen. "Die Spanier haben den Fußball revolutioniert, jetzt hängen sie auf einem hohen Niveau. Die Tormaschine Villa fehlt, der hatte das gewisse Etwas." Teamchef Vicente del Bosque wurde speziell von der spanischen Öffentlichkeit gewatscht, weil er oft auf eine echte Spitze verzichtet. Kühbauer hält prinzipiell von Tachteln wenig: "Ich glaube nicht, dass del Bosque ein Stocki ist, der hat was im Kasten, weiß, was er tut. Die Journalisten wissen alles besser. Vor allem nach dem Spiel."

Italien hat beide Herren nahezu restlos überzeugt. Jancker: "Wenn sie so weitermachen, wird es für Deutschland eng. Die lassen einen Plan erkennen." Portugal ist für Kühbauer der Underdog. "Ganz ehrlich: Wenn der Ronaldo net gewesen wäre, wären sie schon daheim. Der macht den Unterschied, und es ist ein Wahnsinn, welchen Druck der hat. Er geht bisher toll damit um. Am Anfang war Ronaldo der Idiot, jetzt ist er der Held. Sein Gehabe steht ihm zu. Aber die drei anderen Teams besitzen mehr Qualität. Ronaldo allein dürfte gegen Spanien nicht reichen."

Dass Deutschland gegen Italien noch kein Bewerbsspiel gewonnen hat, sollte laut Jancker "keine Rolle spielen. Deutschland ist seit 2004 auch an Niederlagen gewachsen. Die lassen sich von Statistiken nicht schrecken, haben keine Angst, die Köpfe sind frei." Zu Joachim Löw fällt Kühbauer ein: "Du wirst net Trainer, weil du super ausschaust oder einen schicken Schal umgehängt hast. Du wirst Trainer, weil du Qualitäten hast. Löw kann auch gut reinfahren, das Zwischenmenschliche funktioniert, das ist im heutigen Fußball wichtig."

Kühbauer möchte übrigens keinen zweiten Holundersaft mit Leitungswasser, Jancker lehnt sogar einen einfachen Espresso mit Süßstoff ab. Der Wirt ist trotzdem beschäftigt. Er hat bekanntlich nur eine Zweierkette.

Großes Gefälle

Weitere Eindrücke von der EM in der Zusammenfassung, erst Kühbauer, die Reihenfolge ist eine beliebige: "Das Niveau ist hoch, es wird offensiv gespielt, man kreiert Chancen." "Das Gefälle ist trotzdem groß, Irland und Schweden spielen einen biederen Fußball." "Frankreich ist eine träge Mannschaft." "England hat keine Power." "Ich habe noch nie ein schönes Spiel der Griechen gesehen. Als Österreicher sollte man aber leise sein, immerhin qualifizieren sie sich." "Die Stars dienen der Mannschaft. Einen Freak hat praktisch jeder. Zum Beispiel Italien den Balotelli. Aber sie sind cleverer geworden, die Egos gehören bei einer Großveranstaltung und überhaupt hinten angestellt."

Janckers Bündelung: "Fast alle Weitschüsse sind zu hoch angesetzt." " Özil und Khedira haben bei Real Madrid einen unglaublichen Entwicklungssprung gemacht." "Bei den Deutschen kann praktisch jeder ein Tor schießen, Boateng vielleicht ausgenommen." "Die Teams sind auf den Gegner sehr gut vorbereitet. Von jedem Gegner der Deutschen gibt es 500 Seiten. Der Fußball wird verwissenschaftlicht." Einwand Kühbauer: "Es ist fast zu viel, man darf die Spieler nicht überfüttern, sonst steigen sie aus. Man muss den Mittelweg finden."

Soll heißen, auf österreichische Verhältnisse umgemünzt: Trifft ein Admiraner auf einen Mattersburger - und das passiert mindestens viermal im Jahr -, bekommt er von Kühbauer zur Vorbereitung keine Bibliothek überreicht.

Da ein Stammtisch auch lustig sein soll, darf Kühbauer einen Spieler als Verstärkung für die Admira aussuchen. Natürlich nur theoretisch. "Den Ronaldo tät ich nehmen, der würde die Meisterschaft allein entscheiden. Der Pirlo wäre auch super, obwohl er älter ist. Ein Stratege vom Feinsten."

Das Mittagsgeschäft lässt nach, Kühbauer und Jancker brechen auf. "Man sieht sich bald." Um des Hausfriedens willen wird sich Herr Jancker mit Frau Jancker am spielfreien Abend "irgendeine Romanze" im Fernsehen anschauen. Am Mittwoch und Donnerstag sind die Halbfinalpartien Pflicht, das Finale am 1. Juli verbietet Diskussionen. Frau Kühbauer weiß und akzeptiert das. Europameister wird wahrscheinlich Deutschland. Oder Spanien. Oder Italien. Oder Underdog Ronaldo. Kühbauer und Jancker sagen noch: "Im Fußball weiß man halt nie." (Christian Hackl und Fritz Neumann, DER STANDARD, 27.6.2012)