"The Lost Tapes" von Can verstaubten jahrzehntelang in den Archiven.

Foto: Mute

Wien - Zwischen 1968 und 1975 machte eine Band aus Köln die beste und bis heute in Generationen nachfolgender Künstler nachwirkende Musik der Welt. Ähnlich zwingend, dringend, atemberaubend klangen nur noch Hendrix, die ein wenig früher und drogistisch wie existenzialistisch etwas härter zu Werke gehenden The Velvet Underground in New York oder Iggy & The Stooges in Detroit. Letztere wollten Free Jazz und Neandertaler-Rock hin zu Planeten jagen, auf denen Amphetamine und Acid abgebaut werden, landeten aber beim Heroin.

Dagegen trieben die fünf Musiker von Can hochkulturelle Schulung und fundiertes musikalisches Wissen in den dunklen Schlund des Rock 'n' Roll und entwickelten dort unten in geheimen Labors eine wilde, zukunftsträchtig zwischen freier Improvisation und kollektiver Strenge in repetitiven Mustern austarierte Form zeitlos relevanter Musik. Oft und gern von Public Image Ltd., The Fall, Happy Mondays bis herauf zu Postrockern wie Tortoise als "Inspirationsquelle" genutzt, suchen sie bis heute ihresgleichen.

Can atomisierten dabei gleichzeitig die formal enge Ausdrucksweise wie auch die Rezeptionsmuster der Populärmusik und bauten sie neu zusammen. Das klang und klingt umwerfend, zieht den Hörer hypnotisch in den Bann, sorgt für die Erweiterung sogenannter Hörgewohnheiten, ist ebenso tanzbar wie rasend interessant. Can lullen ein, bezaubern, verstören - und Krach machen sie auch. Die große weite Welt des Pop machte sich damals wie heute darüber aber keinen allzu großen Kummer.

Abgesehen von Gitarrist Michael Karoli hatte bei Can interessanterweise kein Musiker seine Wurzeln im Rock 'n' Roll. Keyboarder Irmin Schmidt und Bassist Holger Czukay studierten während der 1960er-Jahre unter anderem bei Karl-Heinz Stockhausen in schön benamsten Einrichtungen wie Internationale Ferienkurse für Neue Musik in Darmstadt oder in den WDR-Studios in Köln serielle Musik sowie "Gruppenkomposition". Sie beschäftigten sich mit akademischen Tonbandexperimenten und elektronischer Grenzlandforschung. Schlagzeuger Jaki Liebezeit kam vom freien Jazz und der Synkope statt von der Teenagermarschmusik aus USA.

Der psychisch labile Afroamerikaner Malcolm Mooney, auf den 1970 drei Jahre lang der japanische Hardcore-Hippie Damo Suzuki folgte, war kaum als Sänger zu bezeichnen. Eher wurde von beider Seite versucht, dem stürmerischen Drängen der Band mit ausdrucksintensivem, japsendem, kreischendem, röchelndem Gegendruck standzuhalten.

Schätze aus dem Archiv

Festgehalten ist dies auf Alben wie Monster Movie, Soundtracks (man arbeitete auch für den deutschen Film und das Fernsehen) und vor allem dem Doppelalbum Tago Mago von 1971. Mitte der 1970er-Jahre blutete man zwar laut heutigem Eingeständnis der Musiker kreativ aus, veröffentlichte aber weiter mitunter immer noch beachtliche Arbeiten. Ende der 1970er-Jahre war aber mehr oder weniger Schluss.

50 unveröffentlichte Stunden an live in Konzerten oder im Studio aufgenommenem, aber ungenutzt gebliebenem Material blieben im Can-Studio in Weilerswist bei Köln jahrzehntelang ungenutzt liegen. Nun endlich wird das Beste von diesen Schätzen auf einer opulenten Drei-CD-Box namens The Lost Tapes auf dem hauseigenen Label Spoon sowie auf dem britischen Mute-Label erstmals veröffentlicht.

Abgespeckter James-Brown-Funk trifft in Stücken wie Midnight Sky und Midnight Men oder Bubble Rap auf die forschen Roboterbeats eines Free-Jazz-Schlagzeugers. Tonbandschleifen und Sänger eiern gemütlich bis dringlich vor sich hin. Punkige Ein-Akkord-Riffs gehen Hand in Hand mit akademischem Groove. Es pulst, es schwirrt, es grummelt. Möglicherweise liegt mit The Lost Tapes das beste Album des Jahres im Bereich ewige Newcomer vor. (Christian Schachinger, DER STANDARD, 20.6.2012)