Varvaroussis: Samaras, ein Populist, wie er im Buche steht.

Foto: privat

STANDARD: Sollte man den Griechen gratulieren: Nach langer Ungewissheit sieht es so aus, als bekäme das Land eine stabile Regierung.

Varvaroussis: Der Wahlkampf lief unter widrigsten Bedingungen ab: Die Parteien hatten wenig Geld für Wahlwerbung, die Zeit für die politische Auseinandersetzung war extrem kurz, und dazu kam der enorme Druck aus dem Ausland. Angesichts dieser Umstände können wir Griechen stolz darauf sein, dass alles so normal abgelaufen ist. Jetzt sind einmal alle erleichtert. Andererseits ist das Land noch lange nicht gerettet.

STANDARD: Die erste Aufgabe der Regierung dürfte es sein, die Sparvorgaben mit der EU nachzuverhandeln. Rechnen Sie mit Entgegenkommen der Gläubiger?

Varvaroussis: Die EU sollte verstehen, dass Griechenland eine Atempause braucht. Wir können keine weiteren Lohnkürzungen verkraften, zumindest nicht in den nächsten Monaten und in dem Ausmaß, wie sich das die Troika (EU-Kommission, Europäische Zentralbank, Internationaler Währungsfonds, Anm.) vorstellt. Wahlsieger Antonis Samaras wird eine starke linke Opposition im Nacken haben. Soll er eine stabile Regierung führen, muss ihm die EU entgegenkommen. Im Gegenzug kann er anbieten, den stillstehenden Privatisierungsprozess voranzutreiben.

STANDARD: Samaras gilt in der EU als Garant der Stabilität. Dabei hat er sich lange geweigert, eine Einheitsregierung mit der sozialistischen Pasok mitzutragen. Das hat 2011 beinahe zur Pleite Griechenlands geführt. Wird er nicht überschätzt?

Varvaroussis: Samaras ist ein Populist, wie er im Buche steht. Aber er hat durch seine wahltaktischen Spielchen dazu gelernt. Er musste sich dem Druck der EU letztlich beugen und dürfte begriffen haben, dass der Spielraum von griechischen Politikern derzeit sehr begrenzt ist. Die Parteien sind überhaupt pragmatischer geworden: Selbst die radikale Linke von Alex Tsipras ist nicht so gefährlich, wie sie im Ausland dargestellt wird. Sie hätte nach einem Wahlsieg weder der EU noch dem Euro den Rücken gekehrt, sondern genauso wie Samaras versucht, eine Lockerungen der Sparvorgaben zu erreichen. Zudem hat in der Nea Dimokratia genauso wie in der Pasok eine Erneuerung stattgefunden und viele der alten Abgeordneten, die mit diversen Korruptionsaffären in Zusammenhang gebracht werden, sind im Parlament nicht vertreten.

STANDARD: Die rechtsextreme Goldene Morgenröte wirkt allerdings wenig pragmatisch: Im Wahlkampf fiel die Partei mit ausländerfeindlichen Sprüchen und Prügel-Attacken im TV auf.

Varvaroussis: Die Neofaschisten profitieren von der Angst: Der Ausländeranteil in Griechenland liegt bei zehn Prozent und viele geben ihnen die Schuld für die steigende Kriminalitätsrate und die vielen Einbrüche. Zudem haben die extremen Rechten Zuspruch aus den Reihen der ehemaligen Anhängern der griechischen Militärjunta. Aber ich denke und hoffe, dass sich die Partei zumindest im Parlament benehmen wird.

STANDARD: Tsipras, Chef der Linkspartei Syriza, hat Europa vorgeworfen, " Psychoterror" betrieben zu haben: Den Griechen sei Angst davor gemacht worden, sein Linksbündnis zu wählen. Stimmt das?

Varvaroussis: Ja und nein. Die europäischen Medien haben den Wahlkampf natürlich beeinflusst, und der überwiegende Tenor war, dass ein Wahlsieg Tsipras die Eurozone in den Abgrund reißen würde. Aber diese Einmischung hat in beide Richtungen gewirkt: Ältere Griechen haben Angst bekommen und der Nea Dimokratia von Samaras ihre Stimme gegeben, weil sie sich von ihm Stabilität versprechen. Unter den Jungen hat sich eine Jetzt-erst-recht-Haltung breitgemacht: Sie fühlten sich provoziert und haben Syriza gewählt. Die Kleinparteien wurden zwischen diesen beiden Strömungen aufgerieben.

STANDARD: Wie lange wird es dauern, bis die neue Regierung steht?

Varvaroussis: Die EU und die griechischen Wähler erwarten sich eine sofortige Einigung zwischen der Nea Dimokratia und der Pasok. Also denke ich, dass jetzt alles sehr rasch gehen wird.(András Szigetvari, DER STANDARD, 19.6.2012)