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In Peking ist die Luft voll von Smog, Kohlestaub, Industrie- und Autoabgasen.

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DER STANDARD-
Schwerpunktausgabe Rio

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Die Spionage-Apparaturen stehen mitten in Peking auf dem Dach der US-Botschaft. Für eine besonders subversive Botschaft brauchten Washingtons Diplomaten am 19. Oktober 2010 nur zwei Worte: "crazy bad" (irrsinnig schlecht). Es war kein Agentenjargon, sondern ihr Urteil über die Luftgüte in Peking, an einem Tag voller Smog, Kohlestaub, Industrie- und Autoabgasen. Ihre Messgeräte, die als Grenzwert eine Feinstaubkonzentration von 25 Mikrogramm pro Kubikmeter Luft und nach "PM2.5" Schwebeteilchen mit einem Durchmesser von 2,5 Mikrometern erfassen, zeigten den Höchstwert 500 an. Dazu fiel einem Diplomaten nur noch "crazy bad" ein.

Seit den Olympischen Spielen 2008 misst die US-Botschaft stündlich die Luftqualität. In 80 Prozent der Fälle lautet ihr über Internet verbreitetes Urteil "unhealthy" (ungesund) oder "dangerous" (gefährlich). Pekings amtliche Luftkontrolleure finden aber nur 20 Prozent der Luft nicht gut. Hinter den Kulissen gab es lange Streit darüber. Jetzt wurde er zur Groteske, als Vize-Umweltminister Wu Xiaoqing den USA vorwarf, sich in Chinas Angelegenheiten einzumischen und "gegen das Wiener Übereinkommen über diplomatische Beziehungen" zu verstoßen. Als ob Luftmessungen Spionage wären.

Keine Nachhaltigkeit

Hintergrund sind immer schwerer zu lösende Folgen der unnachhaltigen Entwicklung Chinas. Sie erklären auch, warum sich die Behörden lieber Luft, Boden und Wasser trickreich sauber rechnen. Selbst nach offiziellen Untersuchungen des Umweltministeriums (MEP) waren im Mai 57 Prozent des städtischen Grundwassers "verschmutzt oder extrem verschmutzt", hatten 298 Millionen Bauern keinen Zugang zu trinkbarem Wasser.

Umweltinitiativen halten die Folgen der rasanten Urbanisierung für noch gravierender. Beispiel Peking: Die Hauptstadt zapft alle Wasserquellen ihrer Nachbar-Provinzen an und lässt über 1000 Kilometer Länge einen Wasserkanal vom Süden her auf sich zubauen. Es sind buchstäblich nur Tropfen auf den heißen Stein. Die 22-Millionen-Hauptstadt kann pro Tag maximal drei Mrd. Kubikmeter Wasser nutzen. Sie verbraucht derzeit aber schon mehr als 90 Prozent davon, ohne Reserven zu haben und kurz vor Beginn des heißen Sommers.

Bisher mogelten sich die Städte durch. Peking etwa bewertete die Luftgüte auf einer Skala von eins (ausgezeichnet) bis fünf (schwer verschmutzt) und erschuf sich aus "eins und zwei" die neue Kategorie "blauer Tag". Als Entwicklungsland knüpfte es dafür die Maschen seiner Messnetze mit dem Parameter PM10 so weit, dass sie allen Feinstaub durchließen. So konnte Peking mit Maßnahmen wie der Stilllegung von Fabriken, Bauverboten oder Aufforstung bessere Luftwerte verkünden. Seine "blauen Tage" stiegen von 185 im Jahr 2001 über 273 bei den Olympischen Spielen auf 286 im Jahr 2011 an. Erst als die Öffentlichkeit Betrug schrie, stellten die Behörden Anfang 2012 ihre Messungen auf den Parameter PM2.5 um.

Rasende Verstädterung

China erlebt die noch unabsehbaren Folgen einer neuen Umwälzung durch seine rasende Verstädterung. Pan Jiahua, Direktor des Instituts für Stadtentwicklung und Umwelt an der Akademie für Sozialwissenschaften, sagte dem Standard, sie fahre mit dem "Tempo eines Schnellzuges" allen Plänen davon. Nach dem neuen 12. Fünfjahresplan 2011 bis 2015 hätten erst 2015 mit 51,5 Prozent mehr als die Hälfte aller Chinesen in Städten leben sollen, doch schon Ende 2011 waren es 51,3 Prozent oder 690 Millionen Chinesen.

Mitglieder der "Parteihochschule", des Brain Trusts von China, warnten in der Study Times vor "großen Sprüngen" in der Urbanisierung. Die Provinzen setzten auf Städtewachstum, um nach europäischem Entwicklungsmuster die Binnennachfrage anzukurbeln. China aber ticke anders.

Wofür Europa ein Jahrhundert brauchte, dauere in China eine Generation. 1979 lebten 17,9 Prozent von knapp einer Milliarde Chinesen in Städten, 2015 werden es dreimal so viele sein. In nur zehn Jahren zwischen 2000 und 2010 wanderten 200 Millionen Bauern in die Städte ab. Bis 2030, so die Study Times, werden es noch einmal 250 Millionen werden.

Die Städte wachsen in noch nie dagewesenem Tempo, stellt auch das im Juni erschienene Jahrbuch zur städtischen Entwicklung 2011 fest. Heute gebe es 13 Metropolen mit weit mehr als zehn Millionen Einwohnern und 30 Städte mit mehr als acht Millionen Einwohnern. Europäer kennen meist nicht einmal die Namen. Aber was dort passiert, wirkt sich auf alle aus. (Johnny Erling aus Peking, DER STANDARD, 16./17.7.2012)