Katja Urbatsch will ihre Idee, Mentoren für Arbeiterkinder in Schulen zu schicken, nach Österreich bringen.

Foto: arbeiterkind.de

Standard: Wie kam Ihnen die Idee zu arbeiterkind.de?

Urbatsch: Als ich zu studieren begonnen habe, habe ich selbst gemerkt, dass das nicht selbstverständlich ist. Mein Bruder und ich waren eben die Ersten in unserer Familie, die studiert haben. Eigentlich haben alle erwartet, dass wir eine Berufsausbildung machen. Ich kenne das also auch, dass man sich rechtfertigen muss, wenn man studieren will, und dass die Familie das nicht versteht.

Standard: Welche Reaktionen haben Sie da erlebt?

Urbatsch: Da haben die immer gesagt, du wirst ja Taxifahrer, du liegst deinen Eltern auf der Tasche, wann bist du endlich fertig. Und dann bin ich auch noch nach Berlin gegangen. Damit kam die Frage: Kannst du nicht wenigstens hier in der Gegend bleiben?

Standard: Hat Sie das verunsichert?

Urbatsch: Klar, die wollten immer alle wissen, was ich hinterher mache. Aber das wusste ich ja selbst nicht. Dann habe ich angefangen zu studieren, und gerade Nordamerikastudien sind ja so ein spezielles Fach, wo ich gleich am ersten Tag gemerkt habe: Wow, das sind ja hier Leute, die habe ich noch nie gesehen. Das war auch eine ganz andere Kategorie von Eltern. Die haben Bücher geschrieben, waren selbst Professoren oder hatten einen Doktortitel. Das war echt eine andere Welt.

Standard: Wie hat sich Ihre Herkunft im Studium bemerkbar gemacht?

Urbatsch: Ich habe gemerkt, die anderen sind da mit einem viel größeren Selbstverständnis, die haben überhaupt keine Angst, Professoren anzusprechen. Die wissen Bescheid über bestimmte Dinge, haben Unterstützung von zu Hause, sowohl praktisch als auch emotional. Das hat mich sehr geschockt, aber auch beeindruckt. Als ich meine erste Hausarbeit schreiben musste, hatte ich keine Ahnung, wie ich das machen sollte. Dann habe ich gefragt: Wie macht ihr das, habt ihr schon eine geschrieben? Dann hieß es oft: Ja klar, ich habe das schon mit meinem Vater durchdiskutiert, wir arbeiten schon an einem Thema, er hat schon mal vorrecherchiert, und wir machen das zusammen.

Standard: Wie kam es dazu, dass Sie anderen, denen es ähnlich geht, helfen wollten?

Urbatsch: Mein größtes Problem war fehlende Transparenz. Ich kann Sachen leisten, aber ich muss wissen, wie die Spielregeln funktionieren. Und mir hat es immer geholfen, wenn Leute mir Sachen transparent gemacht haben. Ich habe auch unterrichtet zum Thema "Wie mach ich meine Abschlussarbeit". Da hatte ich eine erfolgreiche Onlineplattform, aus der wurde eine Website mit all den Infos, die ich gesammelt hatte. Und diese Infos, die ich viel zu spät bekommen habe, wollte ich bereits früher weitergeben. Schon in den Schulen.

Standard: Weil Bildung nicht dem Zufall überlassen werden soll ...

Urbatsch: ... weil ich möchte, dass jeder das umsetzen kann, was er machen möchte. Und dass jeder eine informierte Entscheidung trifft. Es muss ja nicht jeder studieren, aber die Statistiken zeigen in Deutschland und in Österreich, dass die Frage, ob man studiert, nicht von den Noten abhängt, sondern davon, ob die Eltern studiert haben. Wenn man Akademikerkind ist, dann geht man zu 90 Prozent studieren, und wenn man Nichtakademikerkind ist, geht man nur zu 50 Prozent studieren. Also meine Chance war fifty-fifty.

Standard: Welche Rolle spielt die Einstellung der Eltern?

Urbatsch: Eine ganz große. Eine große Rolle spielen auch engagierte Lehrer, oder ob man sich ein Studium zutraut, ob man das finanzieren kann. Viele denken, dass die, die nicht studieren gehen, auch nicht studieren wollen. Meine Erfahrung ist eine andere: Da gibt es verdammt viele von diesen 50 Prozent, die gerne studieren möchten, aber glauben, sie können es aus diversen Gründen nicht.

Standard: Derzeit hat arbeiter kind.de mehr als 5000 Mentoren. Wie arbeiten die genau?

Urbatsch: Wir gehen mit mehreren Leuten in Schulen. Das ist ein Team von Studierenden aus verschiedenen Fächern, die sich auch auf verschiedene Weise finanzieren, auch verschiedene Bildungswege gegangen sind. Manche haben auch später noch das Abitur nachgemacht. Die erzählen dann von sich selbst, von ihren Erfahrungen. Parallel dazu geben sie bestimmte Fakten weiter, die für alle wichtig sind. Und wir nehmen auch Leute mit zur Uni, damit die sich das mal ansehen können.

Standard: Entscheiden sich die meisten dann für ein Studium?

Urbatsch: Nicht immer. Aber das ist dann eine informierte Entscheidung und nicht, weil derjenige glaubte, er hätte gar keine andere Wahl.

Standard: Wenden sich auch Eltern an arbeiterkind.de?

Urbatsch: Ja. Die möchten, dass ihr Kind studiert, fühlen sich aber überfordert, weil sie nicht helfen können. Bei uns trauen sie sich dann, vermeintlich "dumme" Fragen zu stellen. (Karin Riss, DER STANDARD, 16.6.2012)