Tokio - Der Wahnsinn geschah am frühen Morgen. Mitglieder der Endzeitsekte Aum Shinrikyo ("Höchste Wahrheit") betraten am 20. März 1995 mehrere Züge der Tokioter U-Bahn. Mit geschärften Regenschirmspitzen zerstachen sie Plastiksäcke mit Sarin und setzen so das tödliche Nervengas frei. Die Bilder von Menschen mit blutigem Schaum vor dem Mund gingen damals um die Welt. 13 Menschen kamen ums Leben, mehr als 6.000 erlitten Verletzungen.

Jetzt, nach 17 Jahren, ist der letzte der Täter gefasst. Doch für die Opfer des Anschlages, von denen viele weiterhin unter den psychischen, physischen und finanziellen Folgen zu leiden haben, ist der Fall damit noch lange nicht abgeschlossen.

Ganze 17 Jahre lang konnte sich der inzwischen 54 Jahre alte Katsuya Takahashi einer Festnahme durch die Polizei entziehen. Ähnlich verhielt es sich mit zwei anderen seiner ehemaligen Komplizen. Einer von ihnen konnte kürzlich erst festgenommen werden, nachdem er sich selbst gestellt hatte.

Die Polizei musste sich unter anderem vorwerfen lassen, Hinweise auf die Täter nicht ernst genommen zu haben. Doch das ist nicht der einzige Vorwurf, den die Opfer des Anschlages und anderer Sekten-Verbrechen dem Staat machen. Sie wollen vor allem endlich die genauen Hintergründe und Umstände erfahren, die zu dem verheerenden Giftgasanschlag führten.

Der Drahtzieher und Gründer der Sekte, der halb blinde Shoko Asahara, sowie zwölf seiner Anhänger sind zwar zum Tode verurteilt worden. Sie warten seither in ihren Zellen auf die Vollstreckung. Doch Asahara, der im Mai 1995 verhaftet worden war, hatte während des gesamten Jahrhundert-Prozesses entweder geschwiegen oder Unverständliches vor sich hingemurmelt.

"Wenn es jetzt zum Gerichtsprozess gegen Takahashi und die anderen kommt, sollen sie alles erzählen und offenlegen", wurde die Vertreterin einer Opfergruppe nach der Verhaftung des letzten flüchtigen Täters zitiert. Sie hatte bei dem Gasanschlag ihren Ehemann verloren.

Asahara, mit bürgerlichem Namen Chizuo Matsumoto, hatte das spirituelle Vakuum genutzt, das nach den wirtschaftlichen Boom-Jahren in Japan entstanden war und die junge Generation des fernöstlichen Landes zu neuen Religionen wie Aum Shinrikyo trieb. Mit dem Anschlag auf Tokios U-Bahn wollte die Sekte eine geplante Polizeirazzia gegen ihr Hauptquartier am Fuße des heiligen Berges Fuji verhindern.

Doch statt die Hintergründe der gesellschaftlichen Katastrophe tiefgehend zu analysieren, sei Asahara nur zu einem unmenschlichen Monster gestempelt worden, beklagen Kritiker. Unschuldige Mitläufer wurden zu Staatsfeinden erklärt. Japans Gesellschaft habe viel von dem Fall zu lernen, sagte ein Betroffener nach Ende des Prozesses gegen Asahara.

"Die Gräueltaten sind nur das Endprodukt", sagte Yoshihiro Yasuda, ein früherer Anwalt Asaharas. Statt den Sektengründer zu hängen, sei es wichtiger zu untersuchen, was zu den Verbrechen geführt habe und in welchem sozialen Kontext dies passierte.

Auch wenn sich die inzwischen in Aleph umbenannte Sekte von der Gewalt losgesagt hat, stehen ihre Anhänger weiter unter staatlicher Überwachung. Ihr am Freitag verhaftetes früheres Mitglied Takahashi verfügte laut Medienberichten auf seiner Flucht über große Beträge an Geld. Wie, so fragen sich nicht nur die Opfer, war das möglich? Eine von vielen offenen Fragen. (APA, 15.6.2012)