Elisabeth 1 und Elisabeth 2 müssen Hand anlegen in Christoph Marthalers Inszenierung von "Glaube Liebe Hoffnung": Olivia Grigolli und Sasha Rau (Mi.) beim Kulissenschieben vor dem Institut.

Foto: Wolfgang Mair

Ein geschliffenes Festwochen-Juwel.

Wien - Aus dem Orchestergraben in der Halle E des Museumsquartiers tönt ein mysteriöses Schwirren. Auf den leeren Musikersesseln liegen Lautsprecherboxen herum. Ein Orchesterleiter mit glattgekämmtem Haar (Clemens Sienknecht) betritt den Graben. Er erhebt die Finger: Die Töne fallen in den höchsten Diskant und ordnen sich schlagartig.

Gezupft wird jetzt das Andante con moto aus Schuberts Der Tod und das Mädchen. Ödön von Horváths kleiner Totentanz Glaube Liebe Hoffnung (1932) erzählt von den vergeblichen Bemühungen einer jungen Frau, den Tod von sich abzuwehren. Sie will bereits zu Lebzeiten ihren Körper der Anatomie vermachen: Gerüchteweise gibt es für die Übertragung des physischen Vorlasses bares Geld. Ein fürchterlicher Irrtum.

Von der Übertragbarkeit unerträglicher Verhältnisse handelt auch Christoph Marthalers Meisterinszenierung. Mädchen, die für ihr nacktes Überleben alles mit sich machen lassen, findet man wie Sand am Meer. In Wien, bei den Festwochen, bekommt es die Gesellschaft mit zwei Elisabeths zu tun. Olivia Grigolli und Sasha Rau tragen in ihren verschossenen Kleidchen aus der Humana-Sammlung das doppelte Leid auf schmalen, spröden Schultern.

Anna Viebrock hat ein heruntergewirtschaftetes "Anatomieinstitut" errichtet: eine öffentliche Wohlfahrtseinrichtung, hinter deren gläserner Fassade Menschen und Schneiderpuppen in Holzkabinen stecken.

Die wenigen Lettern der Schrift auf dem Dach lassen erahnen, dass der gesellschaftliche Zusammenhalt im Schwinden ist. Der "feste" Stoff der Horváth-Gesellschaft besteht aus symbolischen Gütern: Kalenderweisheiten, goldenen Regeln aus den Benimmbüchern. Liedern, in denen das Selbstmitleid der "kleinen Leute" unnachahmlich Ausdruck findet: "Ich hatt' einen Kameraden ..."

Mitten im tiefsten Frieden sind diese Menschen - Elisabeths natürliche Kontrahenten - bis an die Zähne bewaffnet. Sie stecken in zerknitterten Adenauer-Anzügen und Arbeitskitteln. Sie blicken pikiert und sprechen die Horváth-Sentenzen, diese Zeugnisse unendlicher Dummheit, wie abschließende Werturteile.

Sie pflegen das Andenken ihrer Schoßhündchen. Sie sortieren als Anatomen die "Gurgeln" ihrer Kundschaft und füttern Tauben aus Papiersäckchen. Auf die Brotkrümel stürzen sich Mädchen wie Elisabeth. Das personifizierte Unglück zum Quadrat wird wegen des Fehlens eines einfachen "Wandergewerbescheins" vorbestraft und geht zum Schluss, von jeder Zuwendung entblößt, ins novemberkalte Wasser.

Die Krise hält die Horváth-Bagage fest im Griff, weil sie keine Unterbrechung kennt. Auch das Marthaler-Theater macht keine Pausen: Präparator (Jean-Pierre Cornu) und Oberpräparator (Josef Ostendorf) leben, sobald sie Elisabeth verprellt haben, in seliger Eintracht. Die Frau Amtsgerichtsrat (Irm Hermann), die sich als Verkäuferin von Strapsgürteln etwas dazuverdient, tanzt mit ihrem massigen Gerichtsrat (Ostendorf) einen Wiegetanz des Abscheus.

Der anschließende Kuss lässt erahnen, dass vor der Ewigkeit nichts so sehr Bestand hat wie das Unvernünftige und Schlechte. Marthaler verurteilt nicht. Aber er blickt genauer hin als fast jeder andere Regisseur. Er macht aus Unregelmäßigkeiten und Marotten kleine Menschheitsgeschichten.

Bestien in Not

Er schenkt beiden, Tätern wie Opfern, den lindernden Trost der Musik (Chopin, Bach, Berg). Er besitzt vielleicht keine Hypothese darüber, warum Menschen, kaum dass sie in Not geraten, einander wie Bestien an die Gurgeln fahren.

Aber er besitzt doch ein sehr klares Bild vom kleinen Glück, das sich beim nahen Hinschauen als wahre Katastrophe entpuppt. In dieser Menschenvernichtungsanstalt mit ihren Kacheln und Einbaukästchen liegt Elisabeths Verlobter, der "Schupo" (Ueli Jäggi), in Unterhosen auf dem Bett. Er ist gewiss mehr als doppelt so alt wie die ihm von Horváth zugemessenen "24 Jahre". Er fragt Elisabeth, mit der er ein gymnastisches Beinballett absolviert hat: "Was gefällt dir eigentlich an mir?" Darin aber liegt das ganze Rätsel.

Herzlicher Applaus für das Schmuckstück des Festwochenprogramms 2012.   (Ronald Pohl, DER STANDARD, 15.6.2012)