Mehrdeutige Geschichten, die aus dem Nichts eigene Welten entstehen lassen: Der Schriftsteller Urs Widmer schreibt mit Ironie über die Vergänglichkeit der Dinge.

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Er versammelt lose Texte aus vier Jahrzehnten, die sich mit Erinnerungen und dem Fremdwerden von Vertrautem beschäftigen.

Graz - "Die Fantasie, auch die verblüffendste, ist aus Wirklichkeit gemacht", sagte Urs Widmer 2007 in seiner Frankfurter Poetikvorlesung. Und Fantasie, so Widmer, eine Formulierung von Klaus Hoffer aufnehmend, weiter, sei "ein gerade auch dich selber überraschender Vorschlag einer anders als handelsüblichen Interpretation der Welt". Widmer, 1938 in Basel geboren, hat in zahlreichen poetologischen Texten - auch in der Eröffnungsrede zum letztjährigen Bachmannpreis - immer wieder darauf hingewiesen, dass Literatur mit Widerstand gegen eine inhumane Welt zu tun hat, mit dem persönlichen Handgemenge mit der Realität - und einem " eiskalten Ungeheuer" namens Wirklichkeit, dem es Schönheit entgegenzustellen gilt.

Seit seiner Debüterzählung Alois (1968) thematisiert Widmer, der Lektor im Suhrkamp-Verlag war, in seinen Büchern und Theaterstücken das Auseinanderklaffen von Wunsch und Wirklichkeit, Realität und Utopie, Alltag und Sehnsucht, Leben und Schreiben. Und dies immer mit Humor, Ironie und Selbstdistanz. Anfänglich hieß es über seine Bücher, es handle sich um "skurrile Späße eines Clowns". Spätestens seit seinem Stück Top Dogs (1997) über arbeitslose Manager und deren "radikal verarmtes Gefühlsleben" bei gleichzeitig verengtem Blick auf gesellschaftliche Realitäten wurde dann auch in den Feuilletons ruchbar, dass es Widmer ernst war. Meist bitterernst.

"Sie klingelte, wo andere bremsten", schreibt Widmer in seinem wohl bekanntestem Roman Der Geliebte der Mutter (2000) über die Mutter des Erzählers, die mit dem Fahrrad alle Hindernisse ignorierend eine abfallende Straße herunterzudonnern pflegt. Der Satz trifft im übertragenen Sinn auch auf Widmers Schreiben zu.

Am Montag liest Urs Widmer in Graz aus seinem neuesten Buch Stille Post, das elf meist in Zeitschriften (auch in den manuskripten) verstreut publizierte Texte aus vier Jahrzehnten zwischen zwei Buchdeckeln vereint. Die zuweilen nur vier, fünf Seiten umfassenden Prosastücke nehmen viele Widmer'sche Themen auf. In diesen kunstvoll verwobenen Texten - nichts ist hier eindeutig, meist schwingt unter der erzählerischen Oberfläche eine unerzählte, nur angedeutete Geschichte mit - zeigt sich das breite Stilrepertoire des Autors, dessen Ton stets unverwechselbar bleibt.

Im Text Reise nach Istanbul etwa steigt ein Mann bei einem Zwischenhalt kurz aus einem Zug Richtung Istanbul, um Zigaretten zu kaufen. Er gerät in eine Parallelwelt und trifft die im Abteil zurückgelassene Gattin und das Kind scheinbar einen Wimpernschlag später tatsächlich am Istanbuler Bahnhof wieder. Die Gattin ist mittlerweile eine Greisin, die Tochter eine erwachsene Frau.

Um das Fremde und scheinbar Vertraute geht es auch in einem anderen Text, der den Leser über die Stationen Afrika, den Polarkreis und Kathmandu schließlich zum Fuß des Matterhorns führt, wo ein rüstiger 103-jähriger Ätti (alter Mann) den Ich-Erzähler in seine "Stammbeiz, das ,Shopping and Fucking'" schleppt, die einst "Matterhornstübli" hieß.

Nostalgie nach dem Fliegen

Eine Schöpfungsgeschichte der anderen Art verhandelt Yal, Chnu, Fibittl, Shnö, wo Farben und Worte aus der Welt verschwinden, die Menschen das Fliegen verlernen und der Dauerlärm Einzug hält. "Freunde. Wir werden sterben, wenn wir nicht wieder fliegen lernen", heißt es zuletzt. Von Macht und Ohnmacht, einer in Grappa getränkten Familiengeschichte und einem Selbstgespräch des Autors als 40- und 70-Jähriger handeln weitere Prosastücke. Im titelgebenden Stille Post schickt Widmer eine Erzählung über einen fiktiven Schweizer Volksbrauch buchstäblich rund um die Welt, indem der Text zunächst ins Spanische, von dort ins Chinesische und weiter ins Englische, Russische, Französische und von dort ins Deutsche rückübersetzt wird, mit erstaunlichen, auch kulturell bedingten Verzerrungen.

Allerdings ist es dem Autor nicht um ein literarisches Kinderspiel auf hohem Niveau zu tun. Lesen bedeutet immer auch die Übersetzung des Gelesenen in die eigene Welt. Mit Schreiben verhält es sich wahrscheinlich ähnlich. Man bewegt sich als Leser gern in Widmers Texten, die aus dem Nichts nur mit Sprache Welten schaffen, manchmal auch schreckliche, zur Kenntlichkeit verzerrte. Oft geht es um Vergänglichkeit, Erinnerung und das Verlorene, das sich in derselben Form nicht mehr finden lässt - man hört als Leser förmlich die Uhr ticken. Nichts ist bei Widmer vorbei, alles bleibt möglich. Noch.   (Stefan Gmünder, DER STANDARD, 13.6.2012)