Bild nicht mehr verfügbar.

Menschenströme in der U-Bahn in Tokio: Das Smartphone wird verstärkt für Analysen solcher Ströme verwendet.

Foto: REUTERS/Kimimasa Mayama

Christine Tissot, (42) leitet seit Mitte April das Mobility-Department am Austrian Institute of Technology. Davor war sie zuletzt für die Elektrofahrzeugentwicklung bei Renault verantwortlich.

Foto: AIT/krischanz.zeiler

STANDARD: Die OECD geht aktuell von einer Verdopplung des Personenverkehrs bis 2050 aus. Was tun? Noch mehr Infrastrukturen schaffen oder bestehende besser nutzen?

Tissot: Primär Bestehendes effizienter nutzen - vor allem in Europa müssen wir uns mit der Verkehrsvermeidung beschäftigen. Sehen wir uns gewachsene europäische Städte an, kann es dort gar nicht mehr zu einem massiven Ausbau der Infrastrukturen kommen. Das gilt sogar schon häufig für den öffentlichen Nahverkehr. Auf der anderen Seite werden wir durch einen Arbeitsrhythmus wie den jetzigen immer Stoßzeiten haben. Mobilität ist also nicht nur ein Verkehrsthema, sondern ebenso ein soziales und makroökonomisches.

STANDARD: Es geht also unter anderem darum, im großen Stil Menschenströme zu analysieren. Wie soll das künftig geschehen?

Tissot: Bei Pkws und Lkws funktioniert das schon recht gut mit etablierten Technologien. Wenn wir stärkere multimodale Ansätze wollen, bei denen wir vom Pkw in den öffentlichen Nahverkehr umsteigen, geht das natürlich nicht mehr über die Installationen für die Mautgebühren. Ein Medium, das dafür verstärkt genutzt wird, ist das Smartphone. Da gibt es ja bereits Komponenten wie NFC (Near Field Communication, Anm.), die für den Zahlungsverkehr herhalten. Diese Daten könnten natürlich anonymisiert für die Simulation von Menschenströmen verwendet werden.

STANDARD: Sie sagten zwar gerade "anonymisiert" - aber ist der Datenschutz nicht doch Thema?

Tissot: Absolut. Insofern müssen bei allen Schritten Konsumenten- und Datenschützer eingebunden werden. In der Praxis ist es zudem nicht machbar, dass der Konsument vor jeder Identifizierung um seine Erlaubnis gebeten wird. Da ist dann der Gesetzgeber gefordert, wobei aber auch hier Kontrollmechanismen greifen sollen. Das ist aber keine unüberwindbare Hürde - es darf dabei bloß nicht zu Mauscheleien kommen.

STANDARD: Ändern wir unser Mobilitätsverhalten, wenn wir nur besser darüber Bescheid wissen?

Tissot: Natürlich wird es schwierig sein, multimodale Ansätze breit zu verankern, weil sie situativ sind. Nehmen wir etwa die Variable Wetter: Obwohl wir wissen, dass es bei Regen verstärkt zu Staus kommt, fühlen wir uns im Auto vielleicht besser aufgehoben als auf einem Bahnsteig. Und dennoch: Unser Verhalten ändert sich langfristig über viele positive Erfahrungen - sofern wir diese auch nachweisen können. In der Forschung sollte uns das dazu animieren, nicht zu eindimensional zu analysieren: Der Aspekt der Emissionen ist eben nur ein Faktor - natürlich geht es auch um Komfort und um weniger offensichtliche Aspekte wie Lärm.

STANDARD: Lärm wäre ja beim E-Mobil kein Thema. Warum sitzen wir noch so selten in einem solchen?

Tissot: Das ist in der Tat ein leidiges Thema. Wenn man erst einmal damit fährt - ich mache es -, kann man sich das gar nicht mehr anders vorstellen. Die Kosten spielen noch eine Rolle - vor allem die Investition in die Home-Ladebox ist dabei noch ein Faktor. Ich denke aber, dass wird sich innerhalb von ein bis zwei Jahren ändern.

STANDARD: Und die technologischen Grenzen wie die Reichweite?

Tissot: Die Umstellung wird nicht bei den Familienfahrzeugen beginnen. Mit den Nutzfahrzeugen - etwa bei der Post - gibt es bereits aus vielen Ländern sehr positive Erfahrungen. Allerdings ist das auch bei Fahrzeugen für Pendler schon jetzt zu handhaben. 180 Kilometer Reichweite werden unterschätzt - ich kann das aus eigener Erfahrung sagen. Das reicht freilich noch nicht für Urlaubsfahrten, aber auch hier gibt es schon Angebote. Wenn im Servicevertrag zu einem E-Mobil festgehalten ist, dass für diese Perioden ein anderes Fahrzeug zur Verfügung gestellt wird, ist das eine Lösung, die uns vertraut ist: Wir fliegen an den Urlaubsort und mieten ein Auto. Es geht also auch darum, Gepflogenheiten unserer Mobilität nicht zu abrupt zu ändern.

STANDARD: Was brauchen effizientere Fahrzeuge noch, damit wir sie tatsächlich benützen?

Tissot: Viele Kunden sind durch die Krisenerfahrung kostenbewusster geworden. Das hat teilweise auch dazu geführt, dass anstelle bestimmter Premiumfeatures nun eher fahrunterstützende Systeme nachgefragt werden. Fahrzeuge, die Entscheidungen vorbereiten können - für ältere, nicht mehr so reaktive Personen, aber auch für alle, die effizienter und sicherer unterwegs sein wollen - werden immer wichtiger.

STANDARD: Also ist es die Wirtschaftskrise, die vernünftige Mobilität am stärksten fördert?

Tissot: Nein, das hängt schon eher mit einer langfristigen Erziehung der Bevölkerung zusammen. Das bereits wahrnehmbare Phänomen des Umsteigens ist nicht nur auf die Krise selbst zurückzuführen, sondern zusätzlich auch auf strategische Maßnahmen wie die Abwrackprämie oder die Schaffung multimodaler Informationssysteme. Aber wir sollten diese Situation konstruktiv ausnutzen. (Sascha Aumüller/DER STANDARD, 13.6. 2012)