Martin Gleitsmann: "Wenn eine Wirbelsäule einmal schwer geschädigt ist, sind viele Einschränkungen da. Das heißt aber trotzdem nicht, dass man aus dem Arbeitsprozess ausscheiden muss."

Foto: derstandardat/burg

"Als der Urlaub noch leistbar war" - Martin Gleitsmann hat in seinem Büro alte Werbeplakate ausgestellt.

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"Der Papamonat ist eine übertriebene Erfindung, der Wunderwirkungen beigemessen werden. Im Gegenteil: Da und dort besteht vielleicht die Gefahr, dass Konflikte in junge Beziehungen getragen werden", sagt Martin Gleitsmann, Leiter der Sozialpolitischen Abteilung der Wirtschaftskammer. Katrin Burgstaller sprach mit ihm über die niedrige Geburtenrate, die mangelnde Bereitschaft, für eine Familie Verzicht auf sich zu nehmen, und die Frühpension, die nicht glücklich macht.

derStandard.at: Die SPÖ will, dass auch Patchwork-Eltern und nicht im gleichen Haushalt lebende Elternteile Pflegeurlaub nehmen können. Was spricht aus Sicht der Wirtschaftskammer eigentlich dagegen?

Gleitsmann: Unternehmen müssen jetzt schon für viele Dinge aufkommen, mit denen sie eigentlich nichts zu tun haben. Wenn ein Mitarbeiter eine Sportverletzung vom Wochenende hat, zahlt der Betrieb dafür die Krankenstandstage. Wir haben ein sehr gutes Sozialsystem mit vielen arbeitsrechtlichen Ansprüchen. Es gibt jetzt schon eine Woche Pflegefreistellung für Eltern und zusätzlich noch eine Woche für Eltern von Kindern unter zwölf Jahren. Wir haben jetzt schon die meisten Feier- und Urlaubstage in Europa. Für bestimmte Anlässe, die das Privatleben betreffen, kann man ruhig auch einen Urlaubstag konsumieren. Der gesellschaftliche Beitrag, den Unternehmen leisten, soll freiwilliger Natur sein.

derStandard.at: Die Unternehmen sind also mit den Sozialleistungen, die sie mittragen, überfordert?

Gleitsmann: In Zusammenhang mit dem Rechtsanspruch auf Elternteilzeit gibt es immer wieder Probleme, die uns die Betriebe aufzeigen. Der damit verbundene Kündigungsschutz wirft außerdem die Frage auf, ob diese Elternteilzeit-Regelung gegenüber den anderen Arbeitnehmern gerecht ist.

derStandard.at: Sie gelten als ÖVP-nah, aber im Gegensatz zur ÖVP, die eine moderne Familienpolitik vertreten will, sind sie diesbezüglich eher zurückhaltend. Ist es ein Widerspruch, Wirtschafts- und Familienpolitik kombinieren zu wollen?

Gleitsmann: Nein, keineswegs. Die ÖVP und die Wirtschaftskammer sind sich in vielen sozialpolitischen Fragen einig, etwa was die vorzeitige Angleichung des Pensionsalters für Frauen betrifft. Wir unterstützen auch die flexiblen Kindergeldmodelle, die zugleich auch die Wahlfreiheit für Eltern sicherstellen. Aber wenn man in diesem Bereich einen Ausbau will, muss man auch darüber nachdenken, wie man die Wirtschaft entlasten kann.

derStandard.at: Frauenministerin Heinisch-Hosek will die Langzeitvariante des Kindergelds streichen. So könnten vor Eltern wieder schneller in die Erwerbsarbeit eintreten. Unterstützen Sie diese Idee?

Gleitsmann: Die Langzeitvariante ist derzeit die weitaus beliebteste Form des Kinderbetreuungsgeldes. Da ich immer für Eigenverantwortung und Wahlfreiheit eintrete, halte ich nichts davon, Mütter und Väter in ihrer Freiheit einzuschränken. Schon jetzt zeigt sich aber, dass die auf Initiative der Wirtschaft geschaffene Kurzvariante guten Zulauf hat, vor allem unter Vätern.

derStandard.at: Österreich kämpft mit einer niedrigen Geburtenrate. Auch die ÖVP fordert von den Unternehmen mehr Familienfreundlichkeit.

Gleitsmann: Es ist dramatisch, dass unsere Fertilitätsrate nur bei 1,4 pro Frau liegt. In den 90er Jahren kamen plötzlich 20 Prozent weniger Kinder zur Welt. Diese demografische Schrumpfung wirkt sich auf das Wirtschaftswachstum und auf die Erhaltung des Sozialstaates aus. Deshalb haben wir von der Wirtschaft viele Initiativen gesetzt, damit die Vereinbarkeit von Familie und Beruf verbessert wird. Wir haben in vielen Studien herausgefunden, dass sich Familienfreundlichkeit auch aus betriebswirtschaftlicher Sicht lohnt. Aber es braucht auch mehr Kinderbetreuungseinrichtungen mit Öffnungszeiten, die an das moderne Leben angepasst sind.

derStandard.at: Zur Reproduktion: Manche sagen, es hätten sich eben die Prioritäten der Jungen verschoben.

Gleitsmann: Ich persönlich glaube, dass die Bereitschaft, Verzicht auf sich zu nehmen, um eine Familie zu gründen, abgenommen hat. Familiengründung heißt auch materieller Verzicht und ist eine große Veränderung, aber eine äußerst positive, wie ich als Vater von drei Kindern sagen kann. Doch dazu scheint die heutige Gesellschaft weniger bereit zu sein. Vielleicht hängt das mit einem gewissen Anspruchsdenken zusammen. Man sagt: Ich verzichte nicht, der Staat soll das ausgleichen. Wir haben europaweit herzeigbare Familienleistungen. Von dieser Seite gibt es keine Defizite zu beklagen. Menschen ohne Familie wissen oft nicht, was sie versäumen.

derStandard.at: Vor allem der Kinderwunsch der Männer soll signifikant abgenommen haben.

Gleitsmann: Ich höre das zum ersten Mal. Ich habe es auch schon umgekehrt gehört. Nämlich dass eher die Frauen Sorge um Karriere und Geld haben. Aber das hängt wohl auch mit einer materiellen Einstellung zusammen, wo man nicht bereit ist, bestimmte Gewohnheiten zu ändern. Dass man sich mit keinem oder nur einem Kind zufriedengibt, ist bedauerlich.

derStandard.at: Manche glauben auch, dass der zunehmende Druck aus der Arbeitswelt der Grund für die Reproduktionsverweigerung ist.

Gleitsmann: Das glaube ich weniger. Richtig ist, dass Mehrfachbelastungen Stress auslösen können. Davon wissen jene Frauen ein Lied zu singen, die nicht nur Kinder betreuen, sondern nebenbei einen Beruf ausüben und auch noch den Haushalt führen sollen. Das ist eine enorme Managementaufgabe. Der Arbeitsdruck alleine ist nicht der Grund für psychische Erkrankungen oder Burn-out-Erscheinungen. Besonders belastend sind familiäre Probleme wie zum Beispiel Scheidungen und Krankheiten.

Andererseits werden heute psychische Erkrankungen auch besser erkannt als früher. Im Pensionsbereich macht uns diese Tendenz besondere Sorgen. Leider ist die psychische Erkrankung auch ein Einfallstor für die Frühpension. Viele sind tatsächlich krank, aber wir haben auch einen Teil, der damit spekuliert, dass eine psychische Krankheit ein leichter Zugang in die Pension ist. Eine psychische Erkrankung ist schwer objektivierbar. Es ist sehr bedauerlich, wenn diese Türen offen stehen.

derStandard.at: Sie sehen die Mehrfachbelastungen von Müttern. Warum sträuben Sie sich gegen den Papamonat?

Gleitsmann: Der Papamonat ist ein rückwärtsgewandtes Modell. Man verpflichtet damit die Väter, aber auch die Betriebe. Es gibt jetzt schon sehr viele Gestaltungsmöglichkeiten, etwa die Pflegefreistellung. Väter und Betriebe können vieles individuell vereinbaren. Das Papamonat-Vorbild stammt aus Schweden, wo die Väter zehn Tage zu Hause sind. Bei uns hat man das Maß verloren. Und was ich als Privatperson dazu sage: Hat man schon die Frauen gefragt, ob sie das wirklich wollen? Ich habe schon viele Stimme von Frauen gehört, die sagen, es reicht ihnen, wenn sie ein Baby zu betreuen haben. Man muss überlegen, ob das wirklich das Gelbe vom Ei ist oder ob Väter in einer späteren Phase nicht wesentlich wertvollere Dienste leisten können.

derStandard.at: Beim Papamonat geht man davon aus, dass der Mann die Frau direkt nach der Geburt unterstützt. Sie glauben, dieser Plan geht nicht auf?

Gleitsmann: Gerade die Zeit, in der Kinder noch gestillt werden, ist relativ unkompliziert. Wenn Kinder älter sind, ist der Betreuungsaufwand viel größer. Dann fährt man besser, wenn man zusammen ist. Dafür gibt es wiederum sehr gute Karenzmodelle. Der Papamonat ist eine übertriebene Erfindung, der Wunderwirkungen beigemessen werden. Im Gegenteil: Da und dort besteht vielleicht die Gefahr, dass Konflikte in junge Beziehungen getragen werden. Freiwilligkeit ist wichtig.

derStandard.at: Reden wir noch über die Pensionen. Die Regierung will das faktische Pensionsantrittsalter erhöhen. Auf der anderen Seite haben es ältere Arbeitnehmer in der Berufswelt nach wie vor sehr schwer.

Gleitsmann: Das System muss so ausgebaut werden, dass es ermöglicht wird, die Leute für die Arbeit wiederherzustellen, wenn sie schon in Richtung Invaliditätspension tendieren. Man soll keinen Antrag auf Invaliditätspension stellen können, sondern einen Antrag auf Wiederherstellung. Das muss auf allen Ebenen erst zurechtgerückt werden. Das ist ein gewaltiger Wechsel, auch für die Pensionsversicherungsträger. Man würde gut daran tun, die Türen zur Frühpension schön langsam zu schließen, damit wir wirklich das gesetzliche Pensionsantrittsalter erreichen.

derStandard.at: Wenn jemand schwer krank ist, was soll der tun?

Gleitsmann: In ganz schweren Fällen wird es die Frühpension nach wie vor geben. Aber die ganz große Zahl kann man tatsächlich wiederherstellen.

derStandard.at: Aber viele Unternehmen wollen die älteren Arbeitnehmer nicht.

Gleitsmann: Die Unternehmen müssen eine neue Einstellung zu den älteren Arbeitnehmern gewinnen. Schon jetzt fehlt es an Fachkräften, denn es kommen immer weniger Lehrlinge nach.

derStandard.at: Sie sagen, wir müssen uns um die "Wiederherstellung" der Menschen kümmern. Warum gibt es so viele Menschen, die "wiederhergestellt" werden müssen?

Gleitsmann: Das hängt einerseits damit zusammen, dass Gesundheitsprävention in Österreich keinen hohen Stellenwert hat. Andererseits ist auch die Bereitschaft der Leute selbst sehr beschränkt, mitzutun. Es läuten erst dann die Alarmglocken, wenn gesundheitlichen Schäden vorhanden sind, die schwer zu beseitigen sind. Das sieht man etwa bei der Inanspruchnahme der Gesundenuntersuchung. Wenn eine Wirbelsäule einmal schwer geschädigt ist, sind viele Einschränkungen da. Das heißt aber trotzdem nicht, dass man aus dem Arbeitsprozess ausscheiden muss. Was man aus den Köpfen rausbringen muss, ist, dass die Pension glücklich macht. Arbeit wird von einer großen Mehrheit als sinnstiftend und gesundheitsfördernd empfunden.

derStandard.at: Könnte man länger gesund bleiben und arbeiten, wenn man die Wochenarbeitszeit senkt?

Gleitsmann: Nein, das glaube ich nicht, dass uns das gut tut. Das ist gesamtwirtschaftlich problematisch. Frankreich ist diesen Schritt gegangen und bereut ihn schwer.

derStandard.at: Sie haben seinerzeit den Job des heutigen ÖVP-Klubobmanns Karlheinz Kopf in der Sozialversicherung für Gewerbetreibende übernommen. Können Sie sich vorstellen, ebenfalls in die Politik zu gehen?

Gleitsmann: Ich habe mich nie vor verantwortungsvollen Aufgaben gescheut. (Katrin Burgstaller, derStandard.at, 13.62012)