"Es ist vielleicht das erste Mal in der polnischen Geschichte, dass wir durch ein positives Ereignis auf uns aufmerksam machen. Noch dazu ein unpolitisches: kein Aufstand, keine Gewerkschaftsbewegung, kein Papst."

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derStandard.at: Die ersten Tage der Euro in Polen sind gelaufen, wie ist Ihr Eindruck?

Szczepłek: Absolut fantastisch! Ich hatte keine Sorgen, was die Organisation betrifft. Ich habe gesehen, mit welchem Einsatz die Leute hier bei der Sache sind. Das hat mich optimistisch gemacht, dass Polen das schaffen wird. Diese Meisterschaft ist eine großartige Möglichkeit, Polen in Europa zu präsentieren.

derStandard.at: Wie sollte sich das Land denn präsentieren?

Szczepłek: Offen. Positiv. Polen sind doch nett, oder? Sie haben zwar auch schlechte Eigenschaften, zum Beispiel sind sie durchaus imstande, sich in gefährlicher Art und Weise zu betrinken. Aber eigentlich sind sie doch freundlich und hilfsbereit. Wir sind empathische Leute. Wenn Sie etwas brauchen, wird Ihnen ein Hooligan von Legia also weiterhelfen. Eventuell sogar eher als ein gebildeter Akademiker. Es ist vielleicht das erste Mal in der polnischen Geschichte, dass wir durch ein positives Ereignis auf uns aufmerksam machen. Noch dazu ein unpolitisches: kein Aufstand, keine Gewerkschaftsbewegung, kein Papst.

derStandard.at: Eine kurze Rückschau auf das erste Gruppenspiel gegen Griechenland. Warum haben die Polen derart die Kontrolle über die Partie verloren?

Szczepłek: Ich weiß nicht, was da passiert ist. Die Chance für einen erfolgreichen Beginn war so groß! Man muss aber sagen, es war der erste Ernstfall für die Polen seit langer Zeit. Davor gab es ja nur die Möglichkeit zu Freundschaftsspielen. Diesmal war der Stress-Level ein ganz anderer, Millionen haben zugeschaut. Es gab einen neuen Einschaltrekord im polnischen Fernsehen, bisher gab es den bei einem Skispringen mit Adam Małysz. Außerdem ist der Standard der Mannschaft einfach nicht so hoch. Leider. Nach einem Spiel kann man aber auch noch nichts abschließend beurteilen.

derStandard.at: Aber es gibt doch jetzt die Dortmund-Achse mit Pisczek, Błaszczykowski und Lewandowski, die so eine großartige Saison in Deutschland hingelegt haben ...

Szczepłek: Das stimmt schon, die haben Qualität. Aber das reicht nicht. Andere wichtige Leute haben Fehler gemacht: Szczesny zum Beispiel mit seinem Elferfoul. Obraniak war nicht gut genug und Boenisch, der linke Verteidiger, wirkte überfordert. Viel zu langsam. Ein Team besteht aus elf Leuten. Vielleicht hat unser Trainer Smuda seinem Stamm auch zu sehr vertraut und deshalb nichts verändert. Was er hätte tun sollen! Es sah so aus, als sei er ein bisschen eingeschlafen.

derStandard.at: Wenn es nach Jan Tomaszewski ginge, einem der großen Stars der 1970er Jahre, wären Obraniak und Boenisch gar nicht dabei gewesen. Er meinte ja, das seien keine richtigen Polen, weil sie schon für andere Länder in Nachwuchsteams aufgelaufen sind. Was halten Sie von solchen Aussagen?

Szczepłek: Er vertritt sehr eigentümliche Positionen, sagen wir so. Sicher nicht das, was die Mehrheit der Polen sagen würde. Ich tue mich hier ein bisschen schwer, weil Tomaszewski ein Freund von mir ist. Er ist ein guter Mensch, aber vielleicht ein bisschen verrückt. So wie jeder ordentliche Tormann! Im Ernst: Er war ein sehr berühmter Mann, stand im Mittelpunkt. Das ist jetzt vorbei. Ich glaube, er leidet darunter. Er redet so daher, um sich wichtig zu machen.

derStandard.at: Was muss sich gegen Russland ändern?

Szczepłek: Sie haben die bessere Mannschaft. Wir brauchen ein neues Wunder an der Weichsel! (Eine Referenz auf den völlig unerwarteten Sieg der polnischen Armee im polnisch-russischen Krieg von 1920, als die Polen die scheinbar unaufhaltsam vorrückenden bolschewistischen Truppen kurz vor Warschau stoppen konnten. Er ging als "Wunder an der Weichsel" in die Geschichte ein, Anm.)

derStandard.at: Spiele zwischen polnischen und russischen Mannschaften sind ja nicht ganz unproblematisch …

Szczepłek: Im Bezug auf die Russen ist der Fußball immer politisch überlagert gewesen. Darüber muss man sich im Klaren sein. Polen war ein Satellit der UdSSR, die sportliche Arena war die einzige, in der sich die Polen ausdrücken konnten. Insbesondere auch emotional. Das schwang bei den Vergleichen mit russischen Mannschaften immer mit.

Ich glaube, in der Geschichte jeder nationalen Auswahl gibt es ein ganz besonderes Spiel, auf das immer wieder verwiesen wird. Eine Art Mythos. Für die Polen ist das ein Spiel gegen die Sowjetunion aus dem Jahr 1957. Damals war es so, dass auch in Polen nach dem Ende des Stalinismus ein politisches Tauwetter eingesetzt hatte. Bei dieser Begegnung in Chorzów durften die polnischen Anhänger zum ersten Mal ihre Nationalhymne singen. 100.000 Leute im Schlesischen Stadion! Ein sehr emotionaler Moment. Und dann hat die polnische Mannschaft auch noch 2:1 gewonnen. Man hat die Spieler auf den Schultern vom Platz heruntergetragen. Das sind bis heute Helden.

Auch das Match bei der WM in Spanien 1982 ist erwähnenswert. Eine Szene, an die sich jeder erinnert, ist, als Włodzimierz Smolarek mit dem Ball in die Ecke läuft und ihn dort fünf Minuten verteidigt. So haben die Polen ein 0:0 gehalten, das ihnen zum Weiterkommen gereicht hat. Man muss sich erinnern: Zu dieser Zeit herrschte in Polen bereits das Kriegsrecht und man musste immer noch einen Einmarsch sowjetischer Truppen befürchten.

Nach dem Spiel kam Boniek ins Studio des polnischen Fernsehens, er hatte das Trikot seines sowjetischen Gegenspielers an. Er war wie ein Ritter mit einer Trophäe des besiegten Feindes. So wurde das damals wahrgenommen. Wenn Polen heute gewinnen sollte, dann gäbe es endlich einen neuen Referenzpunkt und man könnte diese alten Geschichten ein bisschen hinter sich lassen.

derStandard.at: Ist es jetzt immer noch etwas Besonderes, wenn es gegen die Russen geht?

Szczepłek: Heutzutage sind das ja zwei relativ freie Länder. Die großen Spannungen und Erwartungen von früher gibt es nicht mehr. Wir sind keine Feinde. Man sollte nicht übertreiben, schließlich geht es nur um Fußball. Wobei, ein Erfolg gegen die Russen ist schon ganz besonders angenehm. (Michael Robausch, derStandard.at, 12.6.2012)