Katzmair: "Es wird ein Außenseiter gewinnen. Frankreich kann so ein Außenseiter sein. Oder natürlich Polen."

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Neundlinger: "Wenn die Achse Piesczek/Kuba/Lewandowski funktioniert, dann ist Polen ein ganz heißer Tipp."

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STANDARD: Die erste Frage ist aufgelegt. Bitte schön, die Herren Analytiker, wer wird Europameister?

Katzmair: Deutschland als Antwort ist genauso fad wie Spanien. Außerdem glaub ich nicht daran. Die Bayern sind ausgelutscht, die Spanier sind auch ausgelutscht. Die haben zu viel gespielt.

Neundlinger: Wobei Guardiola bei Barcelona noch mehr rotieren ließ als Mourinho bei Real Madrid. Und das trifft wieder die Deutschen, deren Real-Stars Özil und Khedira lange Zeit in Hochform waren, sich aber gegen Saisonende totgespielt hatten.

STANDARD: Okay, Deutschland wird es also nicht. Sondern?

Katzmair: Mein Gefühl sagt mir, die Situation ist ähnlich wie 2004, als Griechenland gewonnen hat. Es wird ein Außenseiter gewinnen. Frankreich kann so ein Außenseiter sein. Oder natürlich Polen.

Neundlinger: Piesczek/Kuba/Lewandowski. Dieses polnische Trio war meisterschaftsentscheidend für Dortmund. Wenn diese Achse funktioniert, dann ist Polen ein ganz heißer Tipp.

STANDARD: 2008 war Ausnahme, weil Heimspiel. Täuscht das, oder sind die Menschen vor dieser EM weniger gespannt als vor anderen Fußball-Großevents?

Katzmair: Die EM ist eine Energiefrage, für Kopf und Physis. Und das gilt nicht nur für die Fußballer, das gilt auch für das Publikum. Die Gesellschaft ist wie der Fußball an Grenzen gestoßen. Viele Menschen, viele Leistungsträger, sind ausgepowert. Wie die Fußballer. Der Mensch braucht Reserven für eine EM.

Neundlinger: Natürlich kann man bei einer EM auch Reserven mobilisieren. Das passiert diesmal wohl erst mit dem Anpfiff.

STANDARD: Welche Mannschaften sind aus Sicht der Analytiker besonders interessant?

Neundlinger: Wir werden wohl etliche Teams sehen, die mit der Chelsea-Taktik daherkommen. Abwarten, sich hinten reinstellen, auf Chancen lauern. Die Italiener beherrschen das sicher, und die liegen den Spaniern gar nicht. Mit Irland und Kroatien ist die Gruppe überhaupt sehr stark, und Irland hat noch dazu einen italienischen Trainer, der genau weiß, wie die Italiener spielen. Das wird sehr interessant, da treffen verschiedene Systeme aufeinander.

Katzmair: England? Forget it! Portugal? Nur Ronaldo wird zu wenig sein! Die Niederlande? Robben ist in einem Burnout-Tunnel.

STANDARD: Was hat sich für die Nationalteams in den vergangenen vier Jahren verändert?

Katzmair: Die Erosion der Nationalteams zugunsten der Vereine hat zugenommen. Es geht fast nur noch um die Klubs. In London brennt niemand für das Nationalteam, da sind die Vereine viel wichtiger. In London ist ja sogar das Jubiläum der Queen wichtiger als das Nationalteam.

Neundlinger: Kein Wunder, dass der deutsche Teamchef Löw seinen Frust rausgelassen hat. Darüber, dass ein Spieler mit 26 Jahren schon ein alter Spieler ist, weil die Belastungen so hoch sind. Weil alles immer schneller wird, weil alle immer mehr und immer schneller laufen müssen.

Katzmair: Wir befinden uns im Herzen einer wilden Leistungsgesellschaft. Und so sehr wir uns freuen, wenn Fußball immer mehr wie Eishockey wird - die Geschwindigkeit hat ihren Preis.

STANDARD: Wird sich der Fußball mit seinen neunzig Minuten Spielzeit ändern müssen?

Katzmair: Die Aufmerksamkeitsspannen verändern sich. Das ist das Youtube- und Twitter-Zeitalter. Bei vielen Spielen kommt einem vor, sie dauern zu lange.

Neundlinger: Deshalb sind Live-Ticker mit Postings wichtig geworden. Dadurch bleiben die Leute quasi auf Speed. Es ist halt nicht unbedingt die sozialste Form der Kommunikation.

Katzmair: Andererseits bietet die EM ja die Chance und einen Vorwand, endlich wieder wegzugehen, Leute zu treffen, sich gemeinsam ein Match anzusehen. Und das ist sehr sozial. (Sigi Lützow und Fritz Neumann, DER STANDARD, 8.6.2012)