Der Bauch des Zentralbahnhofs.

Foto: Robausch

Der Zirkus ist in der Stadt.

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Der Papst und die Mädchen.

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Die Ankunft in Warschau ist unterirdisch. Die Bahnlinie auf dem Weg zum Hauptbahnhof quert das Zentrum der polnischen Hauptstadt in einem Tunnel. Kommt der Reisende an die Oberfläche erkennt er: Warszawa Centralna liegt inmitten einer innerstädtischen Brache. Ursprünglich hätte hier eigentlich alles dicht mit sozialrealistischen Schmuckbauten bestückt werden sollen, doch dann starb Stalin und der grandiose Plan gleich mit. Man hat dafür nun viel freien Raum für die große EURO-Fanmeile, die größte in Polen. Bis zu 100.000 Menschen soll das Gelände unmittelbar zu Füßen des Kulturpalastes fassen, der trotz der neuen kapitalistischen Boomtown-Türme immer noch das höchste Gebäude der Stadt ist. Er war ein Geschenk der Sowjetunion an die sozialistischen Brüder, die Warschauer haben sich nicht wirklich bedankt.

Rolltreppen aus Frankreich

Während an die Zone kurz vor dem Start der Sause letzte Hand angelegt wird, wurde am Bahnhof schon länger herumgewerkelt. Nun gibt es sogar Aufzüge. 1843 stand hier der Dworzec Wiedenski, der Wiener Bahnhof, das moderne Gebäude stammt aus dem Jahr 1975 und war seit seiner überhasteten Fertigstellung zur Feier des Besuchs des sowjetischen Parteichefs Leonid Breschnew ständig renovierungsbedürftig. Trotz dieser Errichtungsgeschichte ist es eine sehr westliche Struktur: die polnische Regierung finanzierte den Bau mit Krediten aus dem kapitalistischen Ausland, die Rolltreppen kamen aus Frankreich. Auch der erste Getränkeautomat der Stadt soll hier aufgestellt worden sein. Eine Absurdität jedoch überlebte alle EURO-Behübschungen: die wichtige, nur wenige hundert Meter entfernt gelegene und ebenfalls unterirdisch angelegte Regionalbahn-Station Śródmieście, ist von Centralna weiterhin vollständig isoliert. Der mühselige Fußmarsch – treppauf, treppab – bleibt also ebenfalls erhalten.

Neue Kilometer

Viel war im Vorfeld der Europameisterschaft die Rede von der unzureichenden Infrastruktur im Land. Und es ist tatsächlich kaum vorstellbar, dass eine Metropole im Europa des 21 Jahrhunderts ohne Autobahn-Anschluss existieren kann. Sie kann. Und nicht einmal so schlecht. Die A2, die Warschau mit Berlin verbinden soll, wird es bis zum Anpfiff der Eröffnungspartie im neuen Nationalstadion tatsächlich nicht mehr bis in die Stadt schaffen. Die realisierten Projekte machen nichtsdestoweniger Eindruck: 1200 Kilometer hochrangiger Straßen sollen tatsächlich fertig werden, dazu kommen erweiterte Flughäfen und verbesserte Zugsverbindungen.

Eine solche gibt es nun auch hinaus zum Flughafen, wo im letzten Jahr ein Pilot der Fluglinie LOT einen havarierten Jet bravourös auch ohne Fahrwerk aufsetzte und sein Cockpit daraufhin als frischgebackener Nationalheld verließ. Der Witz bei der Sache: der Name des Mannes war Wrona, was nichts anderes heißt als Krähe. Das Rollfeld für Billigairlines liegt nordöstlich der Stadt gleich neben der pittoresk vor sich hin bröckelnden Riesenfeste von Modlin. Hier, am romantischen Zusammenfluss von Bug und Weichsel saßen einst in bunter Folge Polen, Russen, Deutsche und Franzosen als Besatzung der Verteidigungsanlage um vom jeweils anderen belagert zu werden.

Der Chef auf vier Rädern

In Warschau selbst verkehren neben einer einsamen Metrolinie (die zweite zieht sich derzeit als kilometerlange Baustelle staubend mitten durch die Stadt) anlässlich der EM zwar auch viele neue Busse und Straßenbahnen (auf eigenen Trassen!), vor allem aber: Automobile. Den Polen, die gerade die längste demokratische Phase in der Geschichte ihres Staates erleben, war in den Jahren nach der Wende vor allem an ihrem persönlichen Weiterkommen gelegen. Und das ist auch durchaus wörtlich zu verstehen. Mobilität, auch gerne im PKW deutscher Produktion, war neu und galt etwas. Vielleicht ist der Autofetischismus auch deshalb besonders ausgeprägt.

Realisiert wird er auf Fahrbahnen, deren Ausmaße verblüffen. Angesichts dieser Weiten sinkt der Wiener Gürtel zu einem mickrigen Gässchen herab. Schnurgerade und viele Spuren breit ziehen diese Magistralen durch die Stadt, nur die gelegentliche Unannehmlichkeit einer roten Ampel trübt diesen Himmel der Chauffeure. (Am zweiten Unbill, den permanenten Staus, sind sie selbst Schuld.) Dann müssen sie Eindringlingen die Querung ihres Territoriums wohl oder übel zugestehen. Für diese Unglücklichen ist es, als würde das Meer geteilt. Kurz. Sehr kurz. Zügiges Tempo ist angesichts der Dimensionen angebracht, andernfalls schlägt die Blechflut auf halbem Weg über dir zusammen und du findest dich ausgesetzt auf der Verkehrsinsel. Die Hierarchien sind klar: Fußgängern und vereinzelten Radfahrern ist im eigenen Interesse zurückhaltendes Auftreten tunlichst anzuraten.

Ein Prachtstück einer solchen Straße ist die Marszałkowska. Sie erstreckt sich in nord-südlicher Richtung und wird von schönster stalinistischer Architektur gesäumt. Einst Kulisse für den Aufmarsch der Massen, erweist sie sich jetzt auch als perfekt geeignet zur Bestückung mit gigantischen Werbeplakaten. Die Stadtplaner hatten bei der Anlage ihrer Schneisen freie Hand, Warschau lag nach dem zweiten Weltkrieg in Trümmern. Dass diese Stadt heute überhaupt existiert ist ein Wunder. Der Aufstand gegen die Nazis 1944 und der verzweifelte Widerstand der jüdischen Warschauer gegen ihre Vernichtung im Jahr davor hatte schreckliche Folgen, etwas dem Erdboden gleichmachen war hier keine Phrase sondern grausige Realität. Österreicher, die oft an den Schaltstellen der Macht saßen, hatten an den unmenschlichen, und doch von Menschen verübten Verbrechen übrigens keinen geringen Anteil.

Auf den Trümmern der Katastrophe

Parallel zur Marszałkowska, gleich im Rücken von Centralna, verläuft die Jana Pawła II. Sie führt nach Nordwesten, dorthin wo einmal die Judenstadt war, die der Schriftsteller Alfred Döblin im Jahr 1924 bei seiner "Reise in Polen" so beschrieb: Auf dem Pflaster Familien im Gespräch: zwei jüngere Männer in sauberen Kaftanen mit ihren modern gekleideten polnisch pikant geschminkten Frauen. (…) Ein polnischer Schutzmann leitet auf dem Damm den Wagenverkehr. Dieses Nebeneinander zweier Völker.

Alles weg. Die Häuser der wiederaufgebauten Viertel stehen heute oft einen halben Meter über Straßen-Niveau auf den Schuttmassen des Ghettos. In der Straße, die nach dem polnischen Papst benannt ist, hat sich inzwischen ein kleines Zentrum für käufliche Liebe etabliert. Samt aller Etablissements die damit so einhergehen. Weitläufig selbstverständlich auch sie. (Michael Robausch, derStandard.at, 6.6. 2012)