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Das kaukasische Volk der Tscherkessen klagt Russland an.

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Präsident Putin und Premier Medwedew inmitten der idyllischen Landschaft rund um Sotschi.

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Tiefer in der jüngeren Geschichte oder im Untergrund von Sotschi zu bohren wird von russischer Seite tunlichst vermieden.

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Exakt 150 Jahre nach der Vertreibung der Tscherkessen aus dem Kaukasus werden ebendort die Winterspiele eröffnet.

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Präsident Putin schießt scharf zurück: Die Anschuldigungen der Tscherkessen seien ein Produkt "westlicher Verschwörungen".

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Der Kaukasus-Krieg (1817-1864) führte dazu, dass 90 Prozent der Tscherkessen aus dem Gebiet abwanderten. Die meisten von ihnen in die Türkei.

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"Die Olympioniken werden auf den Überresten unserer Vorfahren Ski fahren. Ich finde, sie sollten darüber zumindest Bescheid wissen." Iyad Youghar, gebürtiger Tscherkesse und Vorsitzender des Internationalen Komitees der Tscherkessen (ICA), gerät in Rage, wenn er über das russische Schweigen zur Geschichte der Tscherkessen spricht. Im Februar 2014 wird Wladimir Putin die Olympischen Winterspiele in Sotschi eröffnen und dabei aller Voraussicht nach nicht erwähnen, dass vor exakt 150 Jahren das Volk der Tscherkessen aus der Regionalhauptstadt und den umliegenden Gebieten vertrieben wurde. 

Parallelen zu Genozid an Armeniern

Die Tscherkessen sprechen von einem Genozid im Zuge des Kaukasuskrieges im 19. Jahrhundert, bei dem 400.000 Menschen ums Leben kam und eine weitere halbe Million vertrieben wurde. "Sie haben damals unsere Leute abgeschlachtet. Es gibt genug russische Dokumente darüber", erzählt Youghar, der heute in den USA lebt.

Auch Oliver Bullough, britischer Journalist und Verfasser eines Buches über die Tscherkessen, erzählt, dass es genug Beweise gibt, die zeigen würden, wie Tscherkessen wissentlich in den Tod geschickt wurden: "Die Russen wussten, was vor sich ging. Dass Tausende aufgrund von Hungersnöten, Seuchen und am Weg übers Meer sterben würden. Aber es war ihnen egal." Bullough sieht viele Parallelen zum Genozid an den Armeniern, die mit ihrer Geschichte und größeren Lobby mehr Gehör gefunden haben. Vergangenes Jahr hat Georgien als bisher einziger Staat in einer Resolution den Genozid an den Tscherkessen anerkannt. Ein Eingeständnis der Ereignisse, geschweige denn eine versöhnende Geste aus Russland gibt es bis dato nicht.

Massengrab bei Bauarbeiten entdeckt

Umso größer war die Empörung unter den Tscherkessen darüber, dass Russland 2014 die Olympischen Spiele just an jenem Ort abhalten wird, an dem vordergründig heute nichts mehr an sie erinnert. Wer jedoch tief genug gräbt, den holt die Vergangenheit nach wie vor ein. So wie einen tscherkessischen Ingenieur, der bei Bauarbeiten am olympischen Gelände zufällig ein Massengrab entdeckte. "Er machte die russischen Behörden darauf aufmerksam, die aber kein Interesse an einer Aufarbeitung hatten. Letztendlich wurde er von seinem Posten abgezogen", erzählt Youghar, der diese Begebenheit von Bekannten vor Ort berichtet bekam. Öffentlich wurde die grauenhafte Entdeckung nicht.

Keine Rückmeldung vom IOC

Viele Tscherkessen wollen deshalb die Olympischen Spiele in Sotschi stoppen. Ein mehr oder weniger aussichtsloses Unterfangen. Derzeit sind Lobbygruppen mit mehreren europäischen Staaten im Gespräch, um Bewusstsein zu schaffen und einen Boykott zu forcieren. Auch beim Internationalen Olympischen Komitee (IOC) äußerte man Unmut und Sorge über die Auswahl des Austragungsortes. "Das IOC hat versprochen, sich damit auseinanderzusetzen. Bis dato gab es jedoch keine Rückmeldung", so Youghar.

Nicht alle Tscherkessen sind mit der derzeitige Boykottkampagne gegen Sotschi 2014 einverstanden, "weil sie glauben, dass eine Provokation Moskaus noch weiter in die Sackgasse führt", sagt Oliver Bullough. "Natürlich sind die Olympischen Spiele eine große Chance, die Aufmerksamkeit auf die menschenrechtliche Situation der Tscherkessen zu lenken, ähnlich wie das zuletzt beim Eurovision Song Contest in Aserbaidschan der Fall war."

"Identität zum Verschwinden bringen"

"Unsere Existenz wird von den Russen totgeschwiegen." Daran stößt sich Youghar am meisten. Er sieht es als seine moralische Pflicht an, die Geschichte der Tscherkessen weiterzutragen. Mehr noch: die Identität des Volks der Tscherkessen langfristig am Leben zu erhalten und auch zu rekonstruieren. "Wir wollen als Volk anerkannt werden, wir wollen eine Verbindung mit unserem Mutterland haben und unsere Sprache bewahren." Youghar sieht auch heute noch genug "Attentate" auf die Tscherkessen. "Heute soll eben unsere Identität zum Verschwinden gebracht werden."

Tscherkessen in Syrien auf der Flucht

90 Prozent der Tscherkessen leben heute außerhalb ihres Herkunftsgebietes. Die meisten davon, rund vier bis fünf Millionen, in der Türkei. Der Rest in Jordanien, den USA oder Israel. Auch im bürgerkriegsgebeutelten Syrien sind knapp 100.000 Tscherkessen beheimatet. In der jüngeren Vergangenheit sind einige davon wieder Richtung Kaukasus abgewandert. "Viele wollen derzeit wegen der Umstände raus", erzählt Bullough. Die, die es schaffen, können sich allerdings nicht immer langfristig niederlassen. Laut Youghar gibt es zwar tscherkessische Flüchtlinge, die sich in Russland aufhalten: "Sie werden jedoch als Gäste behandelt, die, sobald sich die Situation beruhigt, wieder zurück nach Syrien müssen."

Russland: Verschwörung des Westens

Ein Recht auf Rückkehr in den Kaukasus wird vielen Tscherkessen vorenthalten. Wer zurück nach Russland will, wird vielleicht auf lokaler Ebene Unterstützung der Behörden finden. "Moskau hingegen ist misstrauischer", so Bullough.

Auf oberster Ebene hat man in Russland keine Freude damit, dass die Tscherkessen auf die vielfach verschwiegene und vergessene Geschichte hinweisen. "Eine Verschwörung des Westens, um Russland zu diskreditieren", damit werden die Anliegen abgetan. Youghar reagiert auf solche Vorwürfe ungehalten. "Das ist lächerlich. Wer hat in diesem Fall wohl allen Grund zur Verschwörung? Wenn es endlich eine Aufarbeitung gibt, dann werden wir das sehen." 

Keine Gedenktafeln

Von Aufarbeitung und Entkrampfung der russisch-tscherkessischen Beziehungen ist am Olympiaort derzeit nichts zu spüren. Im Stadtbild Sotschis sind die Tscherkessen nicht mehr vorhanden, nur manche Namen von Straßen, Tälern und Flüssen erinnern an die einstigen Bewohner. Gedenktafeln gibt es nicht. Iyad Youghar weiß von einem kleinen lokalen Museum, das auch über die Geschichte der Tscherkessen informiert. "Offensichtlich ist es den Russen nicht bekannt, sonst wäre es wohl schon geschlossen worden." (Teresa Eder, derStandard.at, 11.6.2012)