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In einem Berliner Internet-Cafe wurde der Verdächtige von der Polizei gefasst - das Medienspektakel geht aber weiter.

Foto: AP/dapd/AP Video/

Aunt Gwen schaudert: "Oh mein Gott, wie krank ist das denn!" Dann gießt die Kanadierin Kaffee nach, fragt, ob sie noch Blueberry-Pancakes machen soll - und wendet sich, sobald alle Gäste damit versorgt sind, wofür ihr Bed & Breakfast weit über die Grenzen Neufundlands hinaus bekannt und legendär ist, wieder dem Fernsehapparat zu: "Wer um Himmels willen tut so etwas? Und wieso verschickt er die Leichenteile dann mit der Post?"

Und während Aunt Gwen kurz in die Küche huscht - frischen French Toast holen, Porridge zubereiten und 1.001 Eierspeisen machen -, lassen die Frühstücks- und sonstigen TV-Stationen keinen Zweifel daran, dass diese Frage nur rhetorisch gemeint war: Luka Rocco Magnotta tut "so etwas". Vermutlich. (Auch in Kanada gilt die Unschuldsvermutung. "Alleged" heißt das auf Englisch, und wem das nachgesagt wird, der ist erledigt - oder auf der Flucht.)

Leiche zerstückelt

Was Rocco (mutmaßlich) getan hat, hat - allem Google-Anschein nach - längst auch Europa, wo der Verdächtige schließlich gefasst wurde, erreicht. Und kitzelt in der alten Welt die Chronik-Reporter. Doch im flächenmäßig zweitgrößten Land der Welt drehen die Medien förmlich durch: Einstieg um Einstieg. Sonderbericht um Sonderbericht. Zeugenaussage um Zeugenaussage. Dieser Fall kann, was man sich als Blutschreiber nur wünschen kann - und noch mehr. Viel mehr.

Aber der Reihe nach - und in aller Kürze: Der 29-Jährige wird verdächtigt, vorvergangene Woche in Montreal einen Mann nicht nur ermordet und zerstückelt zu haben. Er soll Teile der Leiche per Post verschickt haben. Als ob das nicht bizarr genug wäre, traf ein Paket (mit einem Fuß) vergangenen Dienstag just in der Parteizentrale der Konservativen in Ottawa ein. Ein zweites Paket (mit einer Hand) wurde in einem Postamt abgefangen. Am Mittwoch tauchten auch noch Pakete mit menschlichen Überresten in zwei kanadischen Schulen auf.

Blut im Bett

Die Gliedmaßen passten zu einem in einem Mistkübel in Montreal gefundenen Torso. Die Spur des Mülls führte in Luka Roccos Wohnung. Dort fand man Blutflecken - aber keine Spur von dem 29-Jährigen. Also gab die Polizei eine dringende Fahndungsmeldung heraus. Damit waren Namens- und Bildnisschutz des offiziell nur Verdächtigen gefallen: Nun konnten (und können) Medien weltweit zum Hallali blasen. Ein Fest!

Denn Luka Rocco Magnotta ist nicht irgendwer: Er ist Pornodarsteller. Noch dazu einer aus Schwulenpornos. Unter seinem Geburtsnamen Eric Clinton Newman, den er offiziell in Luka Rocco Magnotta ändern ließ, ebenso wie unter dem Pseudonym Vladimir Romanov. Und - Sahnehäubchen auf dem Sahnehäubchen - allem Anschein ist er schon lange ein Psycho: Auf irgendwelchen Internetplattformen soll er einst Videos veröffentlicht haben, in denen er Katzen quält. Und tötet.

Bilderflut aus Social-Media-Galerien

Angeblich kursierte auch ein Video, in dem er einen im Bett liegenden Menschen ersticht. Ob das wohl ein echter bzw. der echte Mord war? Darüber spekulieren die Medien rund um die Uhr - und laufen keine Sekunde Gefahr, zu wenige Bilder zu haben: Der Verdächtige war - ganz Kind seiner Generation - im Web 2.0 hoch aktiv. Und da die Polizei überall - "eventuell sogar in Osteuropa, vielleicht ja auch geschminkt oder gar in Frauenkleidern" - suchte, gab es kein Halten mehr: Die kanadischen Tabloid-Nachrichten glichen einem Parforceritt durch Facebook-Bildergalerien. Oder einer Youtube-Orgie.

Auf Heavy Rotation: Zuerst Pics eines attraktiven jungen Mannes. Dann der Schwenk: Schmollmund, Make-up und laszive Blicke werden angezoomt - dann folgen Details der Kleidung oder sexy Posen. Dann ein paar Video-Outtakes aus ersten Vorstellungsrunden bei Castingshows, die global im gleichen Layout und nach gleichem Muster fabriziert werden.

Gegenschuss ins Umfeld

Dann kommt der Gegenschuss: Aus Beauty wird Beast. Nachbarn sagen, dass ihnen nie etwas aufgefallen sei. Der Verschwundene habe immer freundlich gegrüßt. Dann sei einem manches - jetzt - "immer schon" seltsam vorgekommen. Dann kommt die Frau, die den Verdächtigen im Auto mitnahm ("Er war irre: Er hat immer auf die Straße geschaut") und die sich seither nicht mehr in ihren Wagen traut. Dann die nicht näher erklärte Erklärung, dass die Familie den Kontakt abgebrochen habe ("Er hat uns wehgetan"). Letzteres mit jugendfreien, im Kontext eindeutigen Bildern unterlegt: Pornodarsteller! Schwulenpornos!!

Eventuell kommt dann ein Satz eines Ermittlers. Oder besser: die Zuschaltung eines Experten, der beschreibt, wie abartig die Tat sei. Und wie sie im Kanon amerikanischer und kanadischer Serien- und Triebtäter zu bewerten sei. Welche Vorbilder es geben könnte. 

All das wirkt dringend und dramatisch, wenn es von anderswo kommt. Am besten vom FBI. Zugeschaltet aus New York. Dass der Experte kein einziges Mal den Namen des Verdächtigen erwähnt, merkt keiner - dafür sorgen die unterlegten und unverpixelten Bilder aus dem Web. Legitimiert per Fahndung.

Set & Setting

Während im Splitscreen die News-Anchorfrau in HD das sonst immer faltenfreie Gesicht besorgt blickend und bedächtig nickend in fast staatstragende Sorgenfalten legt, referiert der Experte in die Webcam seines Laptops. Eindringlich, aber in miserabler Ruckelbildqualität, fürchterlich ausgeleuchtet, ungeschminkt und mit schiefer Krawatte: Wo Medien die Nachricht vor die Ästhetik stellen, suggeriert das Eile. Also Dringlichkeit und den Ernst einer Lage. Dass der Fall seit Tagen nonstop, aber ohne Neuigkeiten läuft, fällt so weniger auf. Und: Weil das Bild aus Expertenland so schlecht ist, kann - ja, muss! - man es gleich wieder mit neu ausgegrabenem Material aus dem unendlichen Fundus des Web garnieren.

Die Botschaft: sinnliche Lippen - blutige Post. Gesucht, gefährlich. Jung, schön, dekadent und ruchlos. Nicht bloß Porno - auch noch schwul: Eine schönere, geilere Kombi kann man sich gar nicht ausdenken. Das ist der Stoff, aus dem die feuchten Träume (nicht nur) des Boulevards gemacht sind.

Das funktioniert. Die Saat geht auf. Auch am Nordzipfel von Neufundland: Laptop und Kameras kann man hier getrost im unversperrten Auto am Parkplatz liegen lassen. Haustüren werden hier üblicherweise nicht zugesperrt. Normalerweise. "Nehmt einen Schlüssel mit", sagt Gwen, als sie den Frühstückstisch abräumt. "Ich bin heute Abend beim Bingo. Mein Sohn bringt mich heim. Und falls ihr spät kommt: Vergesst nicht zuzusperren. Zweimal." (Thomas Rottenberg, derStandard.at, 6.6.2012)