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"Leichte Sprache": Einfache Ausdrucksweise hilft bei Inklusion.

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Martha Stickings ist Soziologin und Politikwissenschafterin bei der FRA.

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Zwei Studien der EU-Grundrechtsagentur (FRA), die am Donnerstag in Kopenhagen bei der Konferenz "Autonomie und Inklusion" präsentiert werden, behandeln die Zwangsunterbringung sowie das Recht auf selbstständiges Leben für Menschen mit mentalen Behinderungen und psychischen Erkrankungen in Bulgarien, Frankreich, Großbritannien, Deutschland, Griechenland, Lettland, Rumänien, Schweden und Ungarn. Die Erkenntnisse sollen dazu beitragen, den inklusiven Zielen der UN-Behindertenkonvention, die auch von der EU ratifiziert worden ist, unionsweit näherzukommen. Irene Brickner sprach darüber mit der FRA-Expertin Martha Stickings.

STANDARD: Behinderte Menschen sind vielfach mit Vorurteilen konfrontiert, Morten Kjaerum, Leiter der Grundrechtsagentur, sprach kürzlich sogar von "Hetze" gegen sie in der EU. Stimmt das?

Stickings: Ja, davon haben uns etliche unserer 220 Interviewpartner für beide Studien (siehe "Wissen") erzählt. Die Probleme reichen von struktureller Gewalt, etwa Jobbenachteiligung, bis zu Mobbing auf der Straße. Eine junge Frau schilderte, wie ein Busfahrer öffentlich den Umstand kommentierte, dass sie einen Behindertenausweis vorwies. Sie empfand das als eine massive Belästigung.

STANDARD: Sie haben Interviews in neun EU-Staaten durchgeführt. Wo bestehen die größten Probleme?

Stickings: In Ländern, wo die Abkehr von psychiatrischen Institutionen erst spät vonstatten ging, sind die strukturellen Barrieren höher. Die Folge: weniger selbstständiges Wohnen und persönliche Assistenz, das betrifft sowohl westliche als auch östliche Staaten.

STANDARD: Und in Österreich? Wie ist die Lage behinderter Menschen im EU-Vergleich hier?

Stickings: Österreich war in die Interview-Studie nicht mit einbezogen, sehr wohl aber in einen Rechtsvergleich. Es stellte sich heraus, dass der Zugang mental und psychisch behinderter Personen zum Wahlrecht breit, also inklusiv ist - so wie sonst nur in fünf der 27 Mitgliedsstaaten.

STANDARD: Das ist positiv, aber heißt das, dass psychisch Kranke im überwiegenden Teil der EU vom Wahlrecht ausgeschlossen sind? Psychische Erkrankungen sind ja recht häufig.

Stickings: Ja, Menschen, die als nicht geschäftsfähig gelten (was in Österreich der Besachwalterung entspricht, Anm.), dürfen in 16 EU-Staaten nicht wählen und nicht zu Wahlen antreten. Dabei sind viele laut den Interviews an politischer Partizipation interessiert. Man sieht, eine völlig neue Haltung zu Behinderung tut not.

STANDARD: Das Stichwort hier lautet Inklusion. Was heißt das in der Praxis?

Stickings: Dass behinderte Menschen als Gleichberechtigte behandelt werden, etwa im Gesundheitswesen. Nicht die Menschen sind behindert, sondern die Umständen behindern sie. Hier kann die EU mit ihren grenzüberschreitenden Antidiskriminierungsvorgaben Positives bewirken.

STANDARD: Ist das nicht eine Frage des Geldes?

Stickings: Inklusive Maßnahmen kosten nicht automatisch mehr. Wenn behinderte Menschen einen Job haben, also selbsterhaltungsfähig sind, sind sie nicht mehr auf staatliche Unterstützung angewiesen. Also lautet die Message in Zeiten der Wirtschaftskrise: Wir brauchen mehr Inklusion, das hilft auch der Wirtschaft. (Irene Brickner, DER STANDARD, 6.6.2012)