"Ich habe große Angst, dass die Chance, über ein starkes Europa auf die globalen Zukunftsfragen Einfluss zu gewinnen, wegen einer Welle kleingeistiger Renationalisierung vergeben wird": Sven Giegold.

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"Die Lobbyisten mächtiger Sonderinteressen sind hier genauso rührig wie vorher", sagt der Europaabgeordnete Sven Giegold von den deutschen Grünen. Welche Konsequenzen die Lobbying-Affäre Strasser in Brüssel hatte, wieso er keine Egopolitik betreiben möchte und warum die EU wichtige Fragen zentral regeln, bei unwichtigen aber den Ländern mehr Freiheiten lassen soll, erzählte er Marie-Theres Egyed.

derStandard.at: Sie veröffentlichen auf Ihrer Homepage alle Anfragen von Lobbyisten und Ihre Anliegen. Österreich hat sich im vergangenen Jahr intensiv mit der Affäre um Ernst Strasser auseinandergesetzt. Haben Sie schon einmal ein ähnliches Angebot bekommen?

Giegold: Nein, ich hätte auch sofort die Polizei gerufen. Ich verstehe auch gar nicht, wie es dazu kommen kann. Sie haben mit 14 Abgeordneten gesprochen, mich schockiert, dass keiner die Polizei gerufen hat. Da geht es ja nicht um Transparenz, das war ein Bestechungsversuch. 

derStandard.at: Hat sich die Situation seither verändert?

Giegold: Das ist schwer zu beurteilen. Wir haben im Parlament die Regeln verändert - es gibt mehr Transparenz, aber leider waren die beiden großen Parteien, die Sozialdemokraten und die Konservativen, nicht dazu bereit, wirklich konsequent vorzugehen. Wir wollten für jedes Gesetz einen legislativen Fußabdruck. Dadurch wird transparent, wer daran beteiligt war. Auch weitere Vorschläge, um die Macht von Lobbyisten zu beschränken, wurden nicht berücksichtigt.

Aber immerhin muss jetzt jeder hier im Europaparlament seine Nebeneinkünfte veröffentlichen, das ist auch ein Effekt der Strasser-Affäre. Ich habe nicht den Eindruck, dass sich fundamental etwas geändert hat. Die Lobbyisten mächtiger Sonderinteressen sind hier genauso rührig wie vorher. Es geht aber nicht darum, Lobbyismus zu verbieten, Lobbyismus gehört auch zur Demokratie.

derStandard.at: Auf Ihrer Homepage steht, dass Brüssel nach Washington die zweitgrößte Lobbyisten-Dichte hat.

Giegold: Es gibt etwa 700 Finanzmarkt-Lobbyisten in Brüssel und 754 Abgeordnete, also fast für jeden Abgeordneten einen. Brüssel ist sehr wichtig in der Finanzmarktregulierung, daher wird dort auch sehr viel Geld investiert - das macht aber keiner, wenn er kein Ergebnis sieht.

derStandard.at: Sie haben selbst für Grünen-Verhältnisse keine typische Parteikarriere hinter sich. Viele Menschen engagieren sich heute eher in Projekten, Bürgerinitiativen oder Protestbewegungen wie Blockupy als in einer Partei. Werden Parteien überflüssig?

Giegold: Stimmt das denn? Im Moment sind in Deutschland fast 30.000 Menschen Mitglieder einer neuen Partei geworden, bei den Piraten. So viele Leute habe ich auf keiner Blockupy-Demo bisher gesehen. Auch die Grünen haben heute mehr Mitglieder als je zuvor. Wir sind in den letzten zweieinhalb Jahren gewachsen, vor allem auch bei jüngeren Leuten. Es ist pauschal nicht richtig, dass sich Menschen nur in unabhängigen Projekten engagieren.

Aber viele wollen keine Bindung. Sie wollen kurzfristigere Engagements, wo sie sich auch nicht in eine große Organisation einordnen müssen. Andere sehen aber, dass es ohne große Organisation schwerer ist, etwas zu erreichen. Ich glaube, dass Organisierung nach wie vor etwas Wichtiges ist. Es kann nicht jeder Egopolitik machen und nur die Politik betreiben, die ihm oder ihr zu 100 Prozent entspricht, anstatt sich mit anderen zusammenzuschließen und demokratisch nach Kompromissen zu suchen. Gemeinsam ist man stärker.

derStandard.at: Sind Sie deswegen von der Protestorganisation ATTAC in die europäische Politik gewechselt?

Giegold: ATTAC war nie eine Protestbewegung, sondern eine Vorschlagsbewegung. Das fängt schon beim Namen an (Association pour la taxation des transactions financières et pour l'action citoyenne, Vereinigung zur Besteuerung von Finanztransaktionen im Interesse der Bürgerinnen, Anm.). Am Anfang von ATTAC standen drei konkrete Vorschläge: Finanztransaktionssteuer, die Auflösung von Steueroasen und der Erlass der Schulden für die ärmsten Länder. Das sind drei konkrete Vorschläge, kein Protest, und das hat uns auch sehr weit gebracht. In Österreich und Deutschland ist heute kaum mehr jemand gegen eine Finanztransaktionssteuer, beim Kampf gegen die Steuerflucht sind wir noch nicht so weit.

derStandard.at: Im Europäischen Parlament treten Sie für die gleichen Ziele ein. War das für Sie ein Seitenwechsel?

Giegold: Ohne die Arbeit von Gruppen wie ATTAC, die Öffentlichkeit für diese Probleme in der Zivilgesellschaft schaffen, kann man hier im Parlament nichts erreichen. Dass ich hier die Chance habe, Dinge zu verbessern, ist das Ergebnis der Arbeit, die wir in den letzten zehn Jahren bei ATTAC gemacht haben. Es braucht beides: Menschen, die in den Parlamenten und Institutionen für fortschrittliche Ziele streiten, aber auch den öffentlichen Druck von Bewegungen. Gerade wenn man gegen mächtige Interessen angeht, mit denen wir konfrontiert sind. Die Finanzmarktlobby ist die mächtigste Lobby überhaupt. Aus dem Parlament alleine kommt man gegen die nicht an.

derStandard.at: Ist es als NGO leichter, Politik zu machen, als im Europaparlament?

Giegold: Immer dann, wenn Sie in der Öffentlichkeit Kompromisse verteidigen müssen, müssen Sie auch Dinge vertreten, die Sie selbst nicht eins zu eins teilen. Das dürfen Sie aber nicht sagen. Dieses Problem hatte ich auch schon bei ATTAC. Auch dort habe ich Kompromisse verteidigen müssen, bei denen wir nicht alle einer Meinung waren. Sobald man nicht nur Egopolitik macht und man unter medialer Beobachtung steht, muss man als Sprecher nicht die eigene Meinung vertreten, sondern die Position der Organisation. Wenn man öffentlich sagt: "Ich bin aber persönlich anderer Meinung", schwächt man damit die Organisation und handelt damit auch gegen die anderen Mitglieder, mit denen man sich ja zuvor geeinigt hat. In der Parteipolitik, wo man ständig im Wettbewerb mit anderen Akteuren ist, gilt das umso mehr.

derStandard.at: Stört Sie das, dass Sie nicht immer Ihre eigene Meinung vertreten können?

Giegold: Nun ja, das ist Teil der Demokratie. Auch eine radikale Gruppe muss sich auf etwas einigen. Je unterschiedlicher die Menschen sind, desto größer werden die Kompromisse. Kompromisslosigkeit hat auch immer den Gestus des Undemokratischen.

derStandard.at: Bezeichnen Sie sich als Idealisten?

Giegold: Auf jeden Fall tragen mich Ideale und Werte. Für mich ist das Zentrale ein tiefer Wunsch nach Gerechtigkeit und die Erhaltung der Natur. Ich verstehe mich als konsequenten Reformer. Ein Idealist ist für mich jemand, der sein Handeln nicht vor allem nach materiellen Interessen ausrichtet. Ich finde den Unterschied zwischen uns Reichen und den Armen in unserer Gesellschaft unerträglich. Das zu ändern, dafür arbeite ich in der Politik. Die Armen verdienen mehr Freiheit und unsere Gesellschaft mehr Gleichheit. Die Ungerechtigkeiten zu verdrängen ist keine Alternative für mich.

derStandard.at: Können Sie sich auch vorstellen, auf nationaler oder regionaler Ebene politisch aktiv zu sein?

Giegold: Ja, auf jeden Fall. Warum nicht?

derStandard.at: Kann man auf regionaler Ebene mehr ausrichten?

Giegold: Das würde ich so generell nicht sagen. Einerseits sind es die Regionen, in denen eine nachhaltige Form des Konsumierens und Produzierens Fuß fassen muss. Andererseits können die großen Fragen nur noch international gelöst werden. Deswegen finde ich das Europäische Parlament und das europäische Projekt so spannend. Wir bekommen die Globalisierung durch Dezentralismus nicht mehr unter soziale und ökologische Kontrolle. Ich habe große Angst, dass die Chance, über ein starkes Europa auf die globalen Zukunftsfragen Einfluss zu gewinnen, wegen einer Welle kleingeistiger Renationalisierung vergeben wird.

derStandard.at: Österreich verfügt über neun Bundesländer, der Föderalismus bremst viele Entscheidungen des Bundes. Ist es schwierig, mit 27 Ländern einen Kompromiss zu finden?

Giegold: Vieles, was nötig ist, geschieht nicht, weil immer einer der 27 Staaten sein nationales Interesse höher gewichtet als das europäische Gemeinwohl. Alle großen Fragen wie Finanzmarktregulierung, Klimaschutz und effektive Besteuerung von Reichtum kann man nicht dezentral regeln. Da können wir nur Lösungen finden, wenn wir global zu gemeinsamen Standards und Regeln kommen. Europa ist der chancenreichste Zwischenschritt.

Wenn wir alle Regeln dezentral setzen wollen, die Märkte aber global sind, wird irgendwann nur noch der Markt regieren. Jedes Land wird versuchen, einen Wettbewerbsvorteil zu erzielen, mit dem Effekt, dass wir am Schluss dann schwache soziale und ökologische Standards haben. Daran kann man kein Interesse haben. Deshalb brauchen wir für die wichtigen Dinge globale soziale, ökologische und ökonomische Regeln. Für die unwichtigeren Fragen sollten wir unsere vielen regionalen Unterschiede pflegen.

derStandard.at: Was sind dann die unwichtigen Dinge?

Giegold: Warum muss man in Europa jeder Kommune und jeder Gemeinde nervige Vorschriften machen, wie sie ihre Ausschreibungen zu gestalten haben, um mit dem europäischen Binnenmarkt-Recht konform zu sein? Warum braucht man unbedingt einen europaweiten Standard, dass Hebammen in Zukunft eine zwölfjährige Schulausbildung haben müssen? Und EU-Bergbahnrichtlinien mögen in Österreich sinnvoll sein, aber in Mecklenburg-Vorpommern? Das bringt für die Realisierung der europäischen Idee nichts. Es erzeugt aber einen Haufen Ärger. Europa muss weniger Detailregulierungen machen, dafür aber den Regionen mehr Freiheiten lassen, wenn es um die Details geht.

Aber darf ein EU-Land eine Steueroase sein? In den wichtigen Fragen muss es europäische Regeln geben. Man darf doch nicht Teil des europäischen Marktes sein und gleichzeitig als Steueroase fungieren, so wie Österreich. Aber das Gleiche gilt auch für Deutschland: Man sollte sich nicht als Lohndumping-Oase verdingen, nur um sich einseitig einen Wettbewerbsvorteil zu verschaffen. Die großen Linien sind oft nicht vernünftig europäisch geregelt, dafür quälen wir aber Unternehmen, Kommunen und Einzelpersonen mit Bürokratie. Das schadet der europäischen Idee. (Marie-Theres Egyed aus Straßburg, derStandard.at, 6.6.2012)