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Das Brustgeben wird - wieder einmal - zur Weltanschauung stilisiert.

Wien - Die erste Brustentzündung bekam Anna P. noch im Krankenhaus. "Stillen ist wichtig für ihr Baby", redeten Schwestern und Hebammen ihr trotz großer Schmerzen gut zu. Stillen sei sogar so wichtig, dass der Medikamentencocktail, den sie gegen die Entzündung und das hohe Fieber bekam, in Kauf genommen werden müsse.

Geklappt hat es nie so richtig, nach ein paar Wochen folgte die zweite Brustentzündung. Neun Tage Krankenhaus, Infusionen, 40 Grad Fieber, eitrige Brustwarzen. Das Krankenhauspersonal reagierte kühl, als Anna nach einer Flasche verlangte. "Ich hatte Höllenschmerzen." Die Hebamme hielt am Still-Credo fest, Anna entschied sich dagegen. "Als ich zu Hause dauernd in der Werbung hörte 'Stillen ist das Beste für ihr Baby', habe ich mich wie eine Versagerin gefühlt. Jeder redet dir das ein und dann machst du dir selbst am meisten Druck."

Ist wirklich "Breast the Best" und sind nur stillende Mütter gute Mütter? Das "Time"-Cover mit einem an der Brust seiner Mutter hängenden Dreijährigen hat die Diskussion um die Still-Philosophie in der westlichen Gesellschaft wieder neu befeuert.

Laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) muss es in jedem Land eine Nationale Stillkommission geben. In Österreich empfiehlt das Gremium, das im Gesundheitsministerium angesiedelt ist, ausschließliches Stillen während der ersten sechs Monate. Danach kann mit Zufüttern begonnen werden, allerdings soll dabei "bis ins zweite Lebensjahr und darüber hinaus gestillt werden, solange Mutter und Kind das wollen."

Zurück an den Herd

Dass Claus Hipp jedes Mal im TV-Spot für Babynahrung erklärt, dass "Muttermilch das Beste für ihr Baby ist", geht auf den Internationalen Kodex zur Vermarktung von Muttermilchersatzprodukten zurück, der 1981 von der WHO verabschiedet wurde.

Die französische Philosophin Élisabeth Badinter entrüstete sich 2010 in Interviews zu ihrem Buch "Der Konflikt", dass im Zuge der Werberichtlinie auch die Ausgabe von kostenlosem Milchpulver in den Geburtstationen verboten wurde. Überhaupt, befand Badinter, sei der Stillzwang nur ein Mittel, um Frauen wieder an Heim und Herd zu binden.

Wie sehr bestimmen also Politik und gesellschaftliche Trends, ob eine Mutter diese intime Entscheidung frei und unbeeinflusst treffen kann? Der "massive Einsatz von Schuldgefühlen", wie es Badinter nannte, sei ein bedenklicher Rückfall in längst überwunden geglaubte Zeiten.

Die Schweizer Journalistin Nicole Althaus (siehe Interview unten) sieht im neuen Naturalismus, wonach etwa der Babybrei aus Biogemüse selbst gekocht werden soll, die Gefahr, dass sich die gesamte Energie der Frauen auf die Mutterschaft konzentriert. "Das ist gewissen konservative Kreisen sicher nicht unrecht."

Petra Horni-Dereani, Sprecherin des Stillvereins AFS, ist selbst siebenfache Mutter und hat alle ihre Kinder bis zu zweieinhalb Jahren gestillt. Viele Frauen würden sich den Druck selbst machen, wichtig sei, dass jede Frau für sich selbst entscheiden kann. Deswegen sei es so wichtig, gut informiert zu sein. Der Stillverband VSLÖ argumentiert Langzeitstillen mit psychosozialen Faktoren: Kinder entwickelten sich besonders selbstbewusst, kontaktfreudig, selbstständig und lernten früh ein ausgeprägtes Sozialverhalten.

Widersprüchliche Studien

Studien belegten den gesundheitlichen Effekt seit den 1990er-Jahren: Kinder, die gestillt werden, litten weniger unter Allergien und hätten insgesamt einen höheren Intelligenzquotienten. Doch eine Studie aus dem Jahre 2005, die in den USA durchgeführt wurde, scheint dies zu widerlegen: Dabei wurden die Asthma-, Diabetes- und Allergieraten von Geschwisterkindern verglichen, von denen eines gestillt wurde und das andere das Fläschchen bekam. Das Ergebnis: Die Unterschiede waren nicht signifikant.

Sollte es wegen einer "schweren Krankheit, einer Brust-OP oder aus anderen Gründen" nicht möglich sein zu stillen, empfiehlt das Ministerium in seiner Broschüre das Füttern mit Säuglingsnahrung. "Es wird auch damit gut gedeihen." (Bettina Fernsebner-Kokert/Julia Herrnböck, DER STANDARD, 4.6.2012)