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Arundhati Roy: Die Regierungen haben gelernt, mit Demonstrationen umzugehen. "Wir" müssen neue Methoden entwickeln, den Widerstand fortzuführen.

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Die indische Schriftstellerin and Aktivistin Arundhati Roy zählt zu den entschiedensten GegnerInnen der US-Politik, insbesondere seit dem 11. September. Ein Gespräch mit ihr relativiert die eurozentrische Sicht der gegenwärtigen Probleme.


Ihren literarischen Ruhm begründete Arundhati Roy mit Der Gott der kleinen Dinge, der ihr den Booker Prize einbrachte. Seither hat sich die 1961 im indischen Kerala geborene Autorin regelmäßig politisch zu Wort gemeldet, vor allem seit dem 11. September. Sie tritt als eine der vehementesten Gegner der amerikanischen Politik auf und verfolgt deren Verästelungen in vielen neo-kolonialen Aspekten und bis in die indische Innenpolitik.

Während ihres Architekturstudiums verbrachte sie ein halbes Jahr in Florenz, Großbritannien und die USA allerdings kannte sie damals nur von kurzen Aufenthalten. Ein Gespräch mit ihr dient auch dazu, die eurozentrische Perspektive im Konflikt mit den USA etwas zu relativieren.

DER STANDARD: Ms. Roy, was waren Ihre Eindrücke, als Sie mehr und mehr aus politischen Gründen im Westen unterwegs waren?

Arundhati Roy: Eine schwere Frage. Nach Deutschland etwa flog ich, als es um das Narmada-Dammbau-Projekt ging, nach Spanien mit einer anderen Agenda. Die Eindrücke beschränken sich allerdings nicht auf solche Reisen, auf denen würde ich eher nur die touristischen Besonderheiten mitnehmen. Doch in Deutschland hatte ich den Eindruck, dass es eine politisch sehr bewusste Öffentlichkeit gibt.

DER STANDARD: Sie machen häufig die strikte Unterscheidung zwischen Regierung und Volk, im Falle Großbritannien etwa, wohl auch bei Spanien, Polen usw. ...

Roy: Deutschland, Italien.

DER STANDARD: Ja, und andere. Bedeutet das für Sie eine Hoffnung, dass diese Unterschiede wachsen, oder sind Sie skeptisch?

Roy: Ich bin nicht skeptisch, was diese Unterschiede anbelangt. Ich denke, sie verweisen auf eine Krise, was unser Verständnis von Demokratie anbelangt. Das müssen unsere Zivilgesellschaften mehr und mehr zur Kenntnis nehmen – dass die Leute/das Volk (people) konsequent ignoriert werden. Es herrscht die Vorstellung, dass man sie endlos manipulieren kann bzw. dass sie, wenn man sie nur lang genug ignoriert, ihre Anliegen fallen lassen. Die Medienkonzerne halten die Neuigkeiten eher von den Menschen fern, als dass sie sie liefern. Und man hofft, dass die Wochenend-Demonstranten sich irgend welchen anderen Themen zuwenden, alles nur eine Frage der Zeit. Es gibt also eine Art Verachtung der öffentlichen Meinung und des öffentlichen Gedächtnisses. Das müssen wir verstehen, und wir müssen uns auch fragen, ob wir uns genug darum bemühen, konsequent zu sein und unsere Anliegen weiter vorzutragen, oder ob wir das nur tun, um ein gutes Gefühl über uns selbst zu haben.

DER STANDARD: Wer ist "wir"?

Roy: Alle, die gegen diesen Krieg waren, die darauf hingewiesen haben, dass so gut wie alles, was die Regierung der USA und die Koalition der Eingeschüchterten und Gekauften (the bullied and the bought) gesagt haben, Lügen waren. Was nun? Die Regierungen haben gelernt, mit Demonstrationen umzugehen. "Wir" müssen neue Methoden entwickeln, den Widerstand fortzuführen.

DER STANDARD: Auf welche Informationsquellen bauen Sie, wenn Sie sich über die Ereignisse in der Welt informieren wollen?

Roy: Viel durch die Medien, viel auch dadurch, dass ich mit Aktivisten und überhaupt mit Leuten rede.

DER STANDARD: Welche Medien?

Roy: Wenn man jemand ist, der das Spiel durchschaut hat, dann sind die Medien von Konzernen (corporate media) sehr nützlich, wenn man sie nur dekodiert. Ich lese etwa Magazine wie den Economist - allerdings nicht regelmäßig, eher im Netz -, wenn ich nach bestimmten Themen suche. Auch CNN, Fox News oder die BBC sind brauchbare Quellen. Wenn man erst mal skeptisch ist und den Spin kennt, dann funktioniert der Spin nicht mehr.

DER STANDARD: Im Spannungsfeld USA – Europa – Russland – Asien (China, vielleicht auch Indien, und Japan): Welche Entwicklungen scheinen Ihnen in den nächsten Jahren am wahrscheinlichsten? Multilateralismus auf dem Rücken der 3. Welt, verschärfte Konkurrenz, Kriegsgefahr?

Roy: Die indische Regierung bemüht sich zur Zeit sehr, sich mit den USA und Israel gut zu stellen. Das war bisher, in der Geschichte eines unabhängigen Indiens, nicht so. Jetzt gibt es den Druck auf Indien, Truppen in den Irak zu schicken, was die Regierung auch ernstlich erwägt; es gibt enorme Waffengeschäfte zwischen Indien und Israel. Das passt zu dem anti-muslimischen, religiösen Faschismus in Indien. Dass es bei uns ein Pogrom gab, bei dem 2000 Muslims auf den Straßen umgebracht wurden – und zwar nach 9/11 -, das ist kein Zufall! Die internationale Atmosphäre machte das möglich.

DER STANDARD: Wie sehen Sie das im Zusammenhang mit den transatlantischen Problemen?

Roy: Ich denke, dass China hier der Joker im Spiel ist. Man weiß nicht wirklich, was sich dort entwickelt, und das macht die USA sehr nervös. Die vielen Stützpunkte, die jetzt im großen Kreis rundherum entstehen, sind ein Zeichen dieser Nervosität. Doch zwischen Europa und den Staaten ist es interessant zu sehen, wie groß die Spannung ist, die durch den steigenden Wert des Euros entsteht. Die amerikanische Wirtschaft hängt ja in so großem Maß davon ab, dass der Dollar die Leitwährung der Welt ist. Wenn also der Euro das bedroht, dann werden die Spannungen sicher wachsen

DER STANDARD: In einer Diskussion in Wien wurde unlängst Indien als das potenziell wichtigste Land Asiens genannt – enorme Wachstumsmöglichkeiten, eine Demokratie für immerhin mehr als eine Milliarde Leute etc. – wie sehen Sie das?

Roy: Schauen Sie, man kann keine Aussage über Indien machen, ohne sich zu widersprechen. Ich kann Ihnen nur sagen, dass ich keinem anderen Land der Dritten Welt, das ich kenne, so eine Armut wie in Indien gesehen habe. Die Tatsache, dass Indien ein Land mit einer relativ gewaltlosen Kultur ist, und das Ausmaß des Elends ergeben zusammen eine Art sozialer Gewalt: Die Menschen akzeptieren Armut als ihr Schicksal. Und das gibt der Gewaltlosigkeit etwas sehr Vulgäres. Von Wachstum zu sprechen, während die Menschen buchstäblich verhungern, Bauern Selbstmord begehen, Nahrungsmittel in Silos verrotten – das verstehe ich nicht.

DER STANDARD: Rohinton Mistry beschreibt in "Das Gleichgewicht der Welt" die elenden Zustände im Indien der Sechziger und Siebziger. Was hat sich seither geändert?

Roy: Es ist heute viel schlimmer. Die Regierungskorruption ist geringfügig im Vergleich mit Phänomenen wie Enron. Dieser Konzern hat dafür gesorgt, dass er aufgrund eines Vertrags mit einem korrupten Beamten einen Profit macht, der 60 Prozent des gesamten Staatsbudgets für landwirtschaftliche Entwicklung entspricht! Die Dinge, die sich hier im Namen der Demokratie abspielen, sind ungeheuerlich. Und alle Wege eines gewaltfreien Widerstands sind blockiert.

DER STANDARD: Sie haben den Preis für kulturelle Freiheit der Lannan Foundation, Santa Fé, bekommen und in New York entgegengenommen (der Standard vom 21. Mai druckte Auszüge aus der Rede). Was hatten Sie von der US-Öffentlichkeit für einen Eindruck?

Roy: Es waren natürlich viele liberale und linke New Yorker bei der Verleihung, aber auch Kirchengemeinden aus Harlem. Ich hatte eigentlich gezögert, überhaupt hinzufahren, weil ich dachte, ich würde kaum auf eine Zuhörerschaft stoßen, und dann war ich doch überrascht. Sie mögen zwar eine Minderheit sein, aber es gibt viele Menschen in den USA, die sich große Sorgen machen – sicherlich in den Städten, wohl weniger in Gegenden, wo man nur Fernsehen sieht und einer kompletten Gehirnwäsche ausgesetzt ist. Und auch einige Radiosendungen sind geradezu verrückt rechtsgerichtet.

DER STANDARD: Es scheint so zu sein, dass Sie in den USA zwar bekannt und für Ihre Kritik anerkannt sind, aber dass man Ihren als zu aggressiv eingeschätzten Stil nicht mag. Das ist sozusagen nicht Teil der amerikanischen intellektuellen Diskussionskultur.

Roy: Als ich "The Algebra of Infinite Justice" gleich nach dem 11. September schrieb, erwartete ich sehr wütende Reaktionen, aber ich dachte, dass müsse einfach gesagt werden. Und ich schreibe nicht maßgeschneidert danach, was Leute eventuell erwarten. Und wenn man angesichts der Dinge, die in der Welt passieren, nicht emotional und wütend wird, wann dann? Ich glaube nicht, dass wir uns alle wie Pseudo-Wissenschafter verhalten sollen; wir sollen unsere Emotionen und Subjektivität ins Schreiben und in politische Kampagnen hineinbringen.

DER STANDARD: Kann es sein, dass Sie eine Alibifunktion für die liberalen Medien haben?

Roy: Ich verschwende eigentlich nicht meine Zeit damit, mich in diesem Bild irgendwo zu platzieren. Was bedeutet das schon?

DER STANDARD: Nun, es passiert vielleicht, es wird Ihnen zugeschrieben.

Roy: Dann passiert es eben. Morgen bin ich vielleicht nicht mehr da, dann kommt wer anderer und übernimmt meine oder eine andere Rolle. Auch die Preise und dergleichen: Ich bin eine laterale Denkerin, keine hierarchische, daher sind diese Auszeichnungen meinem Denken ein wenig fremd. Sie sind okay, aber ich kann mich für sie nicht begeistern.

DER STANDARD: Woher beziehen Sie Ihren Optimismus, was die oppositionelle Kraft der US-Bürgergesellschaft anbelangt?

Roy: Optimismus und Pessimismus sind keine rationalen Kategorien. Hoffnung ist nicht etwas, was man nur unter rational begründbaren Umständen fühlt. Wenn das so wäre, wären wir alle hoffnungslose Menschen. Tatsächlich aber haben diejenigen die Welt verändert, die gegen alle Evidenz an etwas geglaubt, auf etwas gehofft haben. Denken Sie an den Kampf gegen die Apartheid oder an Indiens Kampf für die Unabhängigkeit. Wir müssen, wie es schon einmal hieß, Realisten sein und das Unmögliche verlangen.

DER STANDARD: Zum Schluss noch etwas ganz anderes, das aber wohl mit Ihren Sätzen über Indien zu tun hat: Was sagen Sie zu der Exportoffensive der indischen Filmindustrie?

Roy: Man kann auch und gerade in Indien den Attacken von Bollywood nicht entkommen. Ich finde es interessant, wie sehr diese Kultur voller sinnlichem Stöhnen und ähnlichem gerade in einem Land populär geworden ist, wo solcherlei fast nie passiert.

DER STANDARD: Vielleicht gerade deswegen.

Roy: So ist es wohl. Aber niemand scheint aus seinem wirklichen Leben ausbrechen zu wollen und auf diese Fantasien zu zielen. Alle sind in ihren Kasten und Klassen verhaftet, jede Ehe ist ein Geschäftsdeal. Die Freude und Lebenslust der Bollywood-Film ist das Vermarkten einer Lüge an Menschen, die die indische Kultur nicht kennen. Ich selber habe mich diesen Filmen gegenüber immer sehr fremd gefühlt. In einem Land voller dunkelhäutiger Menschen wird die Hautfarbe weiß ständig als Schönheitsideal hingestellt. Es ist irgendwie traurig, es hat wenig zu tun mit dem, was Indien ausmacht. Ich bin nicht für ein freudloses Kino. Aber warum müssen wir immer versuchen, jemand ganz anderer zu sein? (Langfassung des Interviews im ALBUM/ DER STANDARD, Printausgabe, 21./22.6.2003)