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Kunst ist für alle Lebewesen: Carolyn Christov-Bakargiev, Leiterin der Documenta 13.

Foto: Heiko Meyer/dapd

Ab 9. Juni werden auf der Documenta 13 in Kassel hundert Tage lang mehr als 150 Künstler aus 55 Ländern präsentiert

Kassel/Wien - Sie sage immer das Gegenteil von dem, was erwartet werde, verriet Carolyn Christov-Bakargiev im Standard-Gespräch kurz nach ihrer Bestellung zur Documenta-Chefin. Und ließ schon damals erahnen, wie sie die Weltkunst-Ausstellung zu positionieren gedenke: "Wenn Sie mich fragen, ob und wie ich die Künstler für die Documenta suche, denke ich sofort: Okay, ich suche nach vielen Dingen, nicht nur nach Kunst und Künstlern."

Also sah sie sich auch in der Biologie und Philosophie, in der Anthropologie, Etymologie, der Ökonomie und Politologie, den Sprach- und Literaturwissenschaften, in der Poesie und der Quanten- und Atomphysik um. Und lud etwa als einzigen Teilnehmer aus Österreich den Quantenphysiker Anton Zeilinger ein, einige seiner Versuchsanordnungen fürs Kunstpublikum in Kassel aufzustellen. Diese kulturelle Breite sei ihr wichtig, "aber das ist weder besonders originell noch neu. Nicht auf Kunst fokussiert zu sein ist seit zwanzig Jahren State of the Art. Niemand ist berechtigt, zu in- oder exkludieren. Es ist interessant, Kultur nicht nur von einem bestimmten Blickwinkel aus zu betrachten."

Carolyn Christov-Bakargiev, kurz CCB, geboren 1957 in New Jersey als Tochter eines Bulgaren und einer Italienerin, ging in Amerika zur Schule, verbrachte in Italien ihre Ferien. In einem kleinen piemontesischen Dorf nahe Volpedo steht die Familienkapelle, "da werde ich einmal beerdigt werden". Ihre Mutter, eine Archäologin, prägte ihr Kunstverständnis: Alles Vergangene war einmal zeitgenössisch. Gegenwart existiert nicht: "Wenn ich alte Kunst betrachtete, stellte ich mir die Gegenwart jener Person vor, die sie geschaffen hat."

Keine Wahrheiten behaupten

Reisen ist für die zweifache Mutter, die vorher das Museum Castello Tivoli in Turin und 2008 die Sydney-Biennale leitete, Teil des Kunstverständnisses. "Wir sind am Ende des Eurozentrismus angelangt. Ich fokussiere nicht auf amerikanische oder europäische zeitgenössische Kunst. Multikulturalität ist etwas völlig Natürliches und Normales. Wenn Sie das alte Rom betrachten, war es das schon damals." Dennoch: Von "Kunst in Zeiten der Globalisierung" mag sie nicht sprechen. Postmoderne gehört ebenso wenig zu ihrem Wortschatz wie postkoloniale Theorie oder periphere Kunst: "Das alles sind Behauptungen. Sobald sie etwas als Wahrheit behaupten, ist es falsch. Also besser nicht behaupten. Sondern einfach tun."

Nun gelte es, die Documenta als Raum für kulturelle Freiheit zu schützen und zwar "mit aller Liebe. Wobei ich ‚amore‘ in dem Sinne meine, wie man dieses Wort im Mittelalter verstand: Amore ist etwas Großes, hat mit Philosophie und Spiritualität zu tun." Jedenfalls hat sie auch ihren Mann, den Performance-Künstler Cesare Pietroiusti, in den erlesenen Kreis der Documenta-Teilnehmer aufgenommen. Kunst, die sie schätze, sei extrem, "lotet die Limits unserer Akzeptanz aus, auf allen Ebenen, physisch und philosophisch".

Ihre eigenen Limits der Akzeptanz und Toleranz sind dann aber doch verblüffend schnell überschritten: So fühlte sie sich von einer Figur Stephan Balkenhols bedroht, die der Künstler auf Einladung der katholischen Kirche auf einem Kirchturm platziert hatte. Diese Installation sei, ließ sie von ihrem Sprecher ausrichten, "ein Eingriff in die Freiheit der Documenta". Strikt hatte sich Christov-Bakargiev Kunst im öffentlichen Kasseler Raum während der Documenta verbeten. Weshalb sie auch die evangelische Kirche rüffelte, als diese dem Künstler Gregor Schneider den Vorplatz vor der Karlskirche für eine Installation zur Verfügung stellen wollte.

Anders als die katholische Kirche, die auf Balkenhol beharrte, sagten die Protestanten die Ausstellung zur Enttäuschung des Künstlers ab. Dafür ist die Documenta sozusagen auf den Hund gekommen. Die Vierbeiner bekommen auf der Documenta ihren eigenen Skulpturenpark und Schmetterlinge einen Garten, "der soll den Schmetterlingen gefallen, nicht den Menschen".

Denn die Documenta 13 wird, wie deren Chefin auf der Website wissen lässt, "von einer ganzheitlichen und nicht logozentrischen Vision angetrieben, die dem beharrlichen Glauben an wirtschaftliches Wachstum skeptisch gegenübersteht. Diese Vision teilt und respektiert die Formen und Praktiken des Wissens aller belebten und unbelebten Produzenten der Welt, Menschen inbegriffen."

Dieser Tage präzisierte sie in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung ihre Absichten und machte sich für das Wahlrecht von Hunden stark: "Gehört denn die Welt weniger den Hunden als den Frauen? Meiner Meinung nach dürfen sich in einer wahren Demokratie alle äußern. Die Frage ist nicht, ob wir Hunden oder Erdbeeren die Erlaubnis zum Wählen erteilen, sondern wie eine Erdbeere ihre politische Intention vorbringen kann." Im Übrigen gebe es keinen Unterschied zwischen Frauen und Hunden oder zwischen Männern und Hunden, "auch nicht zwischen Hunden und den Atomen, die meinen Armreif bilden."

Man darf also gespannt sein, wie sich solche Thesen, mit denen CCB über das durch die Newton'schen Gesetze erfahr- und verstehbare Weltbild recht freihändig Erkenntnisse aus der Quanten- und Atomphysik stülpt, auf der Documenta niederschlagen. "Wichtig ist nicht, was man sagt, sondern ausschließlich, wie man etwas sagt": Vielleicht ist dies ja der Schlüsselsatz zu ihren mitunter ein wenig verworrenen und verwirrenden Gedankengängen. (Andrea Schurian, DER STANDARD, 2./3.6.2012)