Gleich vorweg meine These: Leserkommentare, wie sie derStandard.at seit einem Jahr ermöglicht, sind sinnvoll, Postings sind es in aller Regel nicht.

Ich habe mir das Verfassen und sogar das Lesen von Postings auf derStandard.at (und anderswo) abgewöhnt, von seltenen Ausnahmen abgesehen - und jede einzelne dieser Ausnahme habe ich bereut. Warum ist das so?

Keine Debattenkultur in Postingforen

Ich behaupte: Es gibt in diesen Postingforen keine Debattenkultur. Was es gibt, sind Stänker- und Beißreflexe. Wenn jemand, was selten genug vorkommt, ein niveauvolles Posting schreibt, so kann er/sie ziemlich sicher sein, dass sich alsbald Leute finden, die ihn/sie bzw. es anpinkeln.

Das dürfte mehrere Gründe haben:

  1. 750 Zeichen sind zu wenig, um irgendetwas differenziert zu argumentieren (diepresse.com bietet angemeldeten PosterInnen z. B. 1.500 Zeichen, was schon eine Spur besser ist). Man muss also notgedrungen einige wenige Sätze schreiben, und das verführt geradezu zum Hinhauen.
  2. Mehr als 90 Prozent aller PosterInnen (geschätzt natürlich) schreiben nicht unter ihrem richtigen Namen. Anonymität schafft ein Gefühl von Sicherheit, da kann man also die Sau rauslassen.
  3. Die Debattenkultur ist in Österreich sowieso schwer unterentwickelt, es genügt, sich (nach Einnahme eines starken Antiemetikums) eine Parlamentsdebatte anzuschauen. In Deutschland haben sowohl Parlamentsdebatten als auch Postings deutlich höheres Niveau.
  4. Es gibt Themen, da sind sich viele der - großteils linken bis linksliberalen - Verfasser von Postings einig, z. B. wenn es um Grasser oder um die FPÖ geht. Dann ist das Schreiben von Postings genauso fad wie das Lesen, denn man weiß ja eh, was da kommen muss, und die paar ewig gleichen Gegenargumente kennt man auch. Und bei Themen, die stark polarisieren - das ist ein Spektrum, das von der Schulreform bis zum Dalai Lama reicht -, wird's halt ganz, ganz schnell beleidigend und untergriffig. Auch das ist dann entsprechend vorhersehbar.

Dann gibt es auch noch strukturelle Hindernisse. Selbst wenn ich Postings lesen wollte: Sobald ich sehe, dass es zu einem Artikel mehr als 20 oder 30 Postings gibt (geschweige denn viele hundert), fange ich gar nicht an zu lesen. Die Zeit habe ich einfach nicht, und es wird auch ziemlich öd und repetitiv.

Es gibt Ausnahmen: Manche Postings sind witzig, manche bringen tatsächlich substanzielle Information, nützliche Links, interessante Fragestellungen. Aber die muss man lang suchen.

Leserkommentar: Agieren statt nur reagieren

Gerade deshalb war und bin ich höchst angetan von der Möglichkeit der Leserkommentare, von der ich hier Gebrauch mache. Wenn sich eine/r hinsetzt und 4.000 Zeichen zur Verfügung hat, wenn sie/er zudem nicht einfach reflexartig irgendeine Gemeinheit zu einem bestehenden Artikel oder einem Posting hinwürgen und schnell auf "posten" klicken kann, sondern vielmehr ein Thema darstellen, umreißen und - wie es sogar in den Anforderungen zum Verfassen eines Leserkommentars verlangt wird - durchargumentieren muss, dann muss das Ergebnis wohl etwas anderes sein als das durchschnittliche Posting.

Das hat nicht nur mit der Länge zu tun, sondern eben mit völlig anderen Rahmenbedingungen. Das Verhältnis von aktiver zu reaktiver Meinungsäußerung ist stark zugunsten der ersteren verschoben. Und selbst wenn ein Kommentar polemisch ist, muss er die Polemik länger durchhalten als ein polemisches Posting, was zwei Folgen haben kann: Entweder wird die Polemik besser und erweist ihre Tragfähigkeit, oder sie erweist ihre Schwäche (sofern sie überhaupt online gestellt wird). Beides ist begrüßenswert, auch für den Schreiber/die Schreiberin, sofern er/sie halbwegs ehrlich zu sich selbst ist.

Am Ende allerdings, sowohl figurativ als auch räumlich gemeint, wird es wieder fragwürdig, denn natürlich (ist es das?) kann man zu einem Leserkommentar wieder posten. Doch glücklicherweise muss man auch diese Postings nicht lesen (man kann sie sich vorstellen). Ich für meinen Teil habe - falls dieser Text denn überhaupt online gehen sollte - genau das vor. Versprochen. (Leserkommentar, Norbert Hasenöhrl, derStandard.at, 30.5.2012)