Die Bühne in der Crystall Hall, Baku.

Foto: Marco Schreuder

Die meisten Delegationen und Fans aus der ganzen Welt wohnen in schicken Innenstadt-Hotels in der - übrigens wirklich sehr schönen - Innenstadt Bakus, mit Strand-Boulevard, Prachtbauten aus der Jahrhundertwende und einer Altstadt, die authentisch orientalisch geblieben ist. Sie werden kaum etwas davon mitbekommen, was in der Stadt los ist.

Polizeisperren und verzweifelte Taxifahrer

Wer allerdings (so wie ich) etwas außerhalb des Zentrums wohnt, und dort den pulsierenden Alltag der asberbaidschanischen Hauptstadt erleben darf, muss die Anreise zur Crystall Hall gut vorbereiten: Polizeisperren überall, und dadurch Unmengen Staus. So dürfen etwa kleine private Taxi-Unternehmer keine TouristInnen mehr in die Innenstadt transportieren. Nur die so genannten "London Taxis" dürfen das.

Gestern Abend versuchte mein privater Taxifahrer mich in die Innenstadt zu bringen. Klar ist diese Wahl eine mühsamere, denn man muss den Preis zuerst feilschen, während die London Taxis Taxameter haben und man in diesen meist auch 1 bis 2 Manat weniger zahlt. Sein Lada wurde jedoch bereits weit vor der Innenstadt gestoppt. Ich wurde lautstark aufgefordert das Auto zu verlassen und das Taxi zu wechseln. Die Verzweiflung meines Taxifahrers war ihm anzusehen. Er sagte mir verzweifelt: "Man macht uns hier das Geschäft kaputt. Tausende Taxifahrer müssen ihre Familien ernähren!" Am große Kuchen der Eurovision dürfen sie nicht mitnaschen.

Die Polizeisperren haben freilich mehrere Gründe: Man will Demonstationen der Opposition unterbinden. Zudem gibt es aus dem Iran immer wieder laute Vorwürfe gegen das säkulare und laizistische Aserbaidschan, das so eine "unislamische Gay Pride"-Veranstaltung ausrichtet. Für schiitische Islamisten ist Aserbaidschan gefährlich, denn hier wird tatsächlich bewiesen, dass eine säkulares mehrheitlich schiitisches Land möglich ist. Samt einer traditionell hohen Toleranz gegenüber anderen Religionen und gegenüber AtheistInnen. Die islamistische Partei ist in Aserbaidschan verboten (die Opposition will auch sie erlauben), hätte aber, wie mir Rasul Jafarow von "Sing for Democracy" sagte, nur etwa 3 bis 5 % Unterstützung.

Das Finale

Also geht das Finale dieses Jahr unter strengen Sicherheitsvorkehrungen über die Bühne. Österreich konnte sich bekanntlich nicht qualifizieren. Heute kommen die so genannten Big 5 hinzu - die Länder mit den größten Beitragszahlungen an die EBU. In den vorigen Jahren warf man diesen Ländern (Deutschland, Großbritannien, Frankreich, Italien und Spanien) oft vor, sich zu wenig anzustrengen, weil sie sich nie in einem Semifinale qualifizieren müssen. Heuer schicken sie aber sehr starke Beiträge ins Rennen.

Die Startliste

26 Beiträge in einem Finale gab es zuletzt 2003 in Riga. Wer ist nun Favorit? Wer hat gute Chancen auf einen Top-Platz? Wer wird wohl eher abstinken? Heuer ist es besonders schwer vorherzusagen, wie es ausgeht. Russland könnte mit einem Erdrutschsieg gewinnen, genau so gut könnten aber Italien, Schweden, Spanien oder Serbien um den Sieg mitsingen. Außenseiterchancen gibt es auch in Hülle und Fülle: Moldawien, die Türkei und Albanien gelten als so genannte „Dark Horses".

Mein Tipp fürs Finale: Erlebt es als große Party und tanzt, zittert, weint, votet unter FreundInnen und macht auch mal den einen oder anderen bissigen Kommentar: So macht Eurovision am meisten Spaß!

Ich persönlich möchte übrigens, dass Italien gewinnt.

1. Großbritannien: Engelbert Humperdinck - Love Will Set You Free
Der 1936 geborene britische Sänger war schon einmal ein Megastar. Die BBC überraschte alle, als sie bekannt gab ihn ins Rennen zu schicken. Ein sehr schöner reduzierter Song mit nur einem Gitarristen und Engelbert auf der Bühne. Später kommt ein Tanzpaar dazu. In den Proben bekamen wir leider oft Ohrenschmerzen, denn die Schlussphrase verhaute er mehrmals ordentlich. Hoffen wir, dass es heute klappt.
Fazit: Unberechenbar

2. Ungarn: Compact Disco: Sound Of Your Heart
Depeche Mode lassen grüßen. Eine wirklich starke Nummer aus Ungarn überraschte im 1. Semifinale. Eher Pop für Fortgeschrittene
Fazit: Kein Favorit

3. Albanien: Rona Nishliu - Suus
Dieser Beitrag spaltet die ZuseherInnen. Man liebt es, oder man hasst es. Drama, Schmerz, Schrei, Verzweiflung. Aber auch eine sehr imposante Stimme.
Fazit: Könnte überraschen

4. Litauen: Donny Montell - Love Is Blind
Das zweigeteilte Lied: Erst Ballade, dann Popnummer. Immerhin live eine gute Stimme und so einen Handstandüberschlag auf einer Hand muss man erst mal nachmachen!
Fazit: Kein Favorit

5. Bosnien: Maya Sar - Korake ti znam
Es gab in den Semis gleich drei junge Frauen aus dem ehemaligen Jugoslawien, die auf der Bühne vermutlich etwas über die Liebe sangen, und dabei sehr, sehr traurig waren. Eine davon schaffte es ins Finale.
Fazit: Keine Favoritin

6. Russland - Buranovskiye Babushki - Party For Everybody
Die Omas! So liebenswürdig sie aussehen: Dahinter steckt eine russische und ehrgeizige Maschinerie, die viel investiert hat um das Ding heuer zu gewinnen! Wird super ankommen, aber ich will das nicht gewinnen sehen, ehrlich nicht. Platz 2 sei ihnen gegönnt.
Fazit: Top-Favoritinnen

7. Island: Greta Salóme & Jónsi - Never Forget
Island ist heuer sehr geschickt und macht einen auf Musical-Drama, Duett und Geige. Das könnte auch in Osteuropa gut ankommen.
Fazit: Könnte weiter vorne überraschen

8. Zypern: Ivi Adamou - La-La-Love
Der Partykracher in den Clubs in Baku, und man muss gestehen: Auch wenn man das nicht mag bringt einem das Lied sofort auf die Tanzfläche. Geniale Partymusik. So muss man das sehen und hören.
Fazit: Eher keine Favoritin

9. Frankreich: Anggun - Echos (You And I)
Der bilinguale Beitrag aus Frankreich stammt von der indonesischstämmigen Anggun. Ein sehr feines Popliedchen. Aber vor allem: die knackigsten Tänzer des Bewerbs beeindrucken durch Akrobatik, Breakdance und nackten Oberkörpern. Das wird einige Fans erfreuen!
Fazit: Keine Favoritin, würde mich über vorderen Platz freuen

10. Italien: Nina Zilli - L‘amore è femmina (Out Of Love)
Die feministische Antwort auf die Trackshittaz? Amy Winehouse hat eine legitime Nachfolgerin. Nina Zilli hat alles: Große Stimme, unglaubliche Ausstrahlung und Präsenz sowie viel Musikalität. Und wer meinen Blog gerne gelesen hat, möge doch bitte zumindest einen Anruf für sie tätigen. Mir zuliebe. Ich will, dass das gewinnt!
Fazit: Favoritin, wenn auch nicht Top

11. Estland: Ott Lepland - Kuula
Ein sehr gut aussehender junger Mann steht auf der Bühne, man versteht kein Wort, und trotzdem erzeugt er. Gänsehaut. Eine der besten Balladen der 2012-Ausgabe.
Fazit: Könnte weiter vorne landen

12. Norwegen: Tooji - Stay
Für viele ein Favorit, andere wundern sich über den Finaleinzug. Tooji macht Dancefloor, viel Choreographie und die netten Beats übertönen stimmliche Defizite.
Fazit: Kein Favorit

13. Aserbaidschan: Sabina Babayeva - When The Music Dies
In Baku hört man das Lied aus allen Ecken und Enden. Mit einem Sieg rechnet aber hier niemand. Fans haben das Lied bereits umgetauft in „When The iPhone Dies". Sehr getragene und pathetische Nummer mit einem sehr gefährlichen Titel.
Fazit: Keine Favoritin, könnte aber weiter vorne landen

14. Rumänien: Mandinga - Zaleilah
In Rumänien singt man tatsächlich oft und gerne spanisch, portugiesisch oder italienisch (etwa der Beitrag 2006). Nach der Schwermut aus Aserbaidschan macht sich befreiende Partylaune breit. Könnte ein echter Sommerhit werden!
Fazit: Vorderer Platz möglich

15. Dänemark: Soluna Samay - Should‘ve Known Better
Hübsche Blondine, Gitarre, wohltuend plätschernde Musik, Sonnenblumen, Wiesen. Alles in allem eine Feelgood-Nummer, die nicht weh tut. Aber auch nicht weiter auffällt.
Fazit: Keine Favoritin

16. Griechenland: Eleftheria Eleftheriou - Aphrodisiac
Wieso das ins Finale kam, ist mir bis heute ein Rätsel, außer dass Griechenland immer gut abschneidet, besonders wenn es billige Dutzendware schickt, ein bisschen Ethno-Elemente einbaut und am Ende auch ein bisschen Sirtaki getanzt werden darf. Dazu viel Sex und knappe Kostümchen. Vermutlich bin ich einfach nicht Zielgruppe.
Fazit: Schreckliches Lied, das trotzdem vorne landen könnte

17. Schweden: Loreen - Euphoria
Loreen geriet unter Druck des Regimes, weil sie Menschenrechtsaktivisten traf. Denn was sie in Baku so macht wird besonders genau verfolgt, gilt sie doch als Topfavoritin unter den Fans. Kann sie Europa in ihrem Bann ziehen? Ihr an Rituale erinnernde Performance fesselt durchaus. Vorausgesetzt man kann sich auf sowas einlassen.
Fazit: Top-Favoritin

18. Türkei: Can Bonomo - Love Me Back
Er hat wohl nicht die beste Stimme des Abends, aber Charme, Bühnenpräsenz und - mit Moldawien - die wohl netteste Choreographie, einfach weil sie funktioniert, aber nie gekünstelt wirkt. Ethnoklänge, die Spaß machen.
Fazit: Geheimtipp

19. Spanien: Pastora Soler - Quédate conmigo
Setzen Sie sich, schalten Sie Hirn aus, Ohren ein und lassen Sie das einfach auf sich wirken! Ich habe keine einzige Probe gesehen, in der sie einen Ton daneben gesungen hätte. Gänsehaut pur! Eine der größten Lieblinge der Fans. Sehr eindringlich!
Fazit: Geheimfavoritin und könnte uns alle überraschen

20. Deutschland: Roman Lob - Standing Still
Der Deutsche hat Pech nach Spanien singen zu müssen, denn er wirkt dadurch wie ein großer Absturz. Leider. Denn es ist ein sehr nettes, radiotaugliches Liedchen. Mehr aber auch nicht. Mädchen zwischen 12 und 16 könnten anrufen und ihn retten.
Fazit: Kein Favorit, schwächster Beitrag der Big 5-Länder

21. Malta: Kurt Calleja - This Is The Night
Was wäre die Eurovision ohne richtigen Eurotrash? Jede Ausgabe braucht so eine Nummer, und dieses Jahr kommt sie eben aus Malta. Vom Feinsten oder vom Übelsten - wie man es halt sehen mag.
Fazit: Kein Favorit

22. Mazedonien: Kaliopi - Crno i belo
Kaliopi kam als Außenseiterin nach Baku und mittlerweile wird es auffällig, wie immer mehr mazedonische Fähnchen im Pressezentrum auftauchen, vor allem von Frauen aus ganz Europa, die das besonders zu lieben scheinen. Großes Theater!
Fazit: Geheimtipp

23. Irland: Jedward - Waterline
Nein, sie haben nicht die besten Stimmen. Nein, sie haben nicht den besten Song. Aber eine Show abziehen können sie wie kaum sonst jemand. Falls Bravo-LeserInnen anrufen, dann wohl dafür.
Fazit: Keine Favoriten

24. Serbien: Željko Joksimović - Nije ljubav stvar
Getragener Pathos, Geigen, Percussions. Der serbische Beitrag wird gut ankommen. Das ist sicher. Aber ob es für den Sieg reicht? Bislang schaffte es der Song Contest-Veteran es maximal bis Platz 2.
Fazit: Favorit

25. Ukraine: Gaitana - Be My Guest
Noch immer wissen wir nicht, ob Angela Merkel dafür anrufen wird. Die Euro 2012-Hymne kreischte sich ins Finale. Warum auch immer.
Fazit: Keine Favoritin

26. Moldawien: Pasha Parfeny - Lăutar
Er behielt den rumänischsprachigen Titel, singt aber auf Englisch. Das wunderbare Popliedchen mit Trompeten, schnellem Takt und einer sehr feinen Choreographie gehört mittlerweile zu den beliebtesten Beiträgen unter Fans.
Fazit: Geheimtipp

In den frühen Morgenstunden Bakus, also rund Mitternacht in Wien, werden wir wissen, wohin die Reise 2013 geht. Habe ich bereits erwähnt, dass ich gerne nach Italien fahren würde? (Marco Schreuder, derStandard.at, 26.5.2012)