Begeißelte Erreger des Typs Salmonella typhimurium (orange) nehmen Kontakt mit einer menschlichen Wirtszelle (blau) auf. Mit Hilfe eines ausgeklügelten Injektionsapparates setzen die Bakterien die Immunabwehr ihrer Opfer aus Kraft.

Foto: Christian Goosmann, Diane Schad, Rashmi Gupta, Michael Kolbe

Den Wissenschaftern gelang es, die "Spritzen" aus Shigella flexneri zu isolieren. Die Zugabe von Nadelprotein führt zu einer spontanen Verlängerung einiger Nadeln. Die Länge des Balkens entspricht 100 Nanometer (1 Nanometer entspricht einem millionstel Millimeter).

Foto: Christian Goosmann, Diane Schad, Rashmi Gupta, Michael Kolbe

Pest und Cholera haben eines gemeinsam: Sie werden von Bakterien ausgelöst, die ihre Opfer mit einem speziellenInjektionsapparat infizieren. Über nadelartige Strukturen spritzen sie molekulare Wirkstoffe in ihre Wirtszellen und überlisten so deren Immunabwehr. Ein internationales Forscherteam hat jetzt die Struktur einer solchen Nadel im atomaren Detail aufgeklärt. Ihre Erkenntnisse könnten dazu beitragen, Medikamente maßzuschneidern und Strategien zu entwickeln, die den Infektionsprozess gezielt verhindern.

Es ist ein tückisches Werkzeug, das die Erreger von Pest oder Cholera so gefährlich macht. In Form hunderter winziger hohler Nadeln ragt es aus der Bakterienmembran heraus. Diese Miniatur-Spritzen bilden zusammen mit der in die Membran eingebetteten Basis das sogenannte Typ III-Sekretionssystem - einen Injektionsapparat, mit dem die Erreger molekulare Wirkstoffe in das Innere ihrer Wirtszellen einschleusen. Dort manipulieren die Substanzen wichtige Stoffwechselvorgänge und setzen die Immunabwehr der infizierten Zellen außer Gefecht - mit fatalen Folgen. Der Erreger kann sich nun ungehindert im Organismus ausbreiten. Einmal infiziert, helfen bislang traditionelle Antibiotika. Einzelnen Bakterienstämmen allerdings gelingt es immer wieder, Resistenzen zu bilden. Spezifischere Medikamente zu entwickeln ist daher ein wichtiges Ziel vieler Forschungsgruppen weltweit.

Widerspenstige Injektionsapparate

Die genaue Struktur der 60 bis 80 Nanometer (millionstel Millimeter) langen und rund acht Nanometer breiten Nadeln blieb Forschern bislang verborgen. Klassische Methoden wie die Röntgenkristallographie oder die Elektronenmikroskopie versagten bisher oder ergaben falsche Modellstrukturen. Nicht kristallisierbar und unlösbar widersetzte sich die Nadel allen Versuchen, ihren atomaren Aufbau zu entschlüsseln.

Ein Team von Physikern, Biologen und Chemikern um Adam Lange und Stefan Becker am MPI für biophysikalische Chemie in Göttingen wählte daher einen völlig neuen Ansatz. In Kooperation mit David Baker an der University of Washington und Michael Kolbe am MPI für Infektionsbiologie stellten die Wissenschafter die Nadel im Labor her und kombinierten Festkörper-NMR-Spektroskopie, Elektronenmikroskopie und Computermodellierung - mit Erfolg: Atom für Atom haben die Forscher die Struktur der Nadel aufgeklärt und ihren molekularen Aufbau erstmals im Ångström-Bereich sichtbar gemacht - das ist eine Auflösung von weniger als einem Zehntel eines millionstel Millimeters.

"Der Bauplan der Nadeln barg für uns große Überraschungen", erzählt Lange. Die Nadeln von Erregern so unterschiedlicher Krankheiten wie Salmonellenvergiftung, Bakterienruhr oder Pest zeigen auffällige Gemeinsamkeiten - wie erwartet. Doch anders als bisher vermutet ist es der innere Teil der Nadeln, der bei den unterschiedlichen Erregern auffallend ähnlich aufgebaut ist. Die Oberfläche der Nadel dagegen ist erstaunlich variabel. "Diese Wandelbarkeit könnte eine Strategie der Bakterien sein, um der Immunabwehr des Wirts zu entkommen", meint Kolbe. Veränderungen auf der Nadeloberfläche könnten es dem Immunsystem des Wirts erschweren, den Erreger wiederzuerkennen.

Anti-Infektiva statt Antibiotika

Der Injektionsapparat der Bakterien beschäftigt die Wissenschafter Lange, Kolbe, Becker und ihre Max-Planck-Kollegen Christian Griesinger und Arturo Zychlinsky schon seit mehreren Jahren. Bereits 2010 hatten sie gemeinsam mit der Bundesanstalt für Materialforschung und -prüfung herausgefunden, wie Bakterien ihre Miniatur-Spritzen zusammenbauen. Dass die Forscher nun auch ihren Bauplan im atomaren Detail kennen, ermöglicht nicht nur wichtige neue Einblicke, wie diese Erreger ihre Wirtszellen überlisten. Es eröffnet zugleich die Perspektive, den Aufbau der Spritze und das Einschleusen der bakteriellen Wirkstoffe in die Wirtszelle mit einem maßgeschneiderten Molekül zu blockieren.

Solche Substanzen, Anti-Infektiva genannt, könnten spezifischer und zu einem viel früheren Zeitpunkt der Infektion wirken als traditionelle Antibiotika. "Unser neues Verfahren erlaubt es uns endlich, die Nadeln im Labor in größerer Menge herzustellen. Unser Ziel ist es nun, Hochdurchsatzverfahren zu entwickeln, um nach neuen Wirkstoffen zu suchen, die die Nadelbildung verhindern", erklärt Stefan Becker. (red, derstandard.at, 26.05.2012)