Ein interdisziplinäres Projekt erforscht die Motive junger Diebe und begibt sich damit in ein wissenschaftlich kaum beachtetes Gebiet.
Helmut Hirtenlehner betritt das Terrain von Polizisten und Juristen. Der Kriminologe, der an der Kepler-Universität und an der FH Linz arbeitet, beschäftigt sich mit Ladendiebstählen von Jugendlichen - und leistet mit dem Projekt "Catch Me If You Can" überraschenderweise Pionierarbeit.
Hirtenlehner sagt dazu selbst: "Es wundert mich, dass dieses Phänomen so wenig erforscht ist." Denn für die Analyse des häufigsten Jugend-Strafdelikts wären empirische Daten "von enormer gesellschaftlicher Relevanz". Zwar gebe es viele Studien von Unternehmen, um das Problem in den Griff zu bekommen, doch die blieben zumeist unveröffentlicht.
Viertel von Gewinn gestohlen
"Das Thema wird von der Kriminologie sträflich vernachlässigt", sagt Hirtenlehner. Wahrscheinlicher Grund: Der Wert der gestohlenen Ware liegt meist unter zehn Euro. Die Summe des Gesamtschadens durch Ladendiebstähle sei allerdings beträchtlich: Bis zu einem Viertel ihres Gewinns würden Geschäfte dadurch einbüßen.
Das Thema ist an verschiedenen Schauplätzen präsent - in den Geschäften, die sich dagegen schützen müssen, in den Schulen, die Präventivarbeit leisten sollten - und muss daher auch interdisziplinär bearbeitet werden. In "Catch Me If You Can" greifen soziologisch-kriminalistische, strafrechtliche und betriebswirtschaftliche Blickwinkel ineinander.
Am Projekt sind auch Schüler beteiligt. "Um herauszufinden, wie junge Menschen ticken, muss man sie partizipieren lassen", sagt Hirtenlehner. " Catch Me If You Can" wird daher vom Wissenschaftsministerium im Rahmen des Programms Sparkling Science gefördert. So sollen Jugendliche an den Wissenschaftsbetrieb herangeführt werden, um langfristig ein Umdenken in der Gesellschaft herbeizuführen: Derzeit stehen die Österreicher den Wissenschaften skeptisch und desinteressiert gegenüber.
Die Schüler erhalten Einblick in ein Forschungsfeld, das in Österreich marginalisiert ist. Für die Kriminologie gibt es hierzulande keine Studienmöglichkeit. In Deutschland ist die Situation dank vereinzelter Angebote besser. Im Gegensatz dazu gibt es in einigen angelsächsischen Ländern sogar mehr Kriminologie- als Soziologiestudenten, sagt Hirtenlehner, der selbst promovierter Soziologe ist.
Für "Catch Me If You Can" wurden 44 Schüler der Handelsakademien Perg und Traun und des Linzer Gymnasiums Fadingerstraße in einem Crash-Kurs in empirischer Sozialforschung zu wissenschaftlichen Mitarbeitern ausgebildet. Mit der Methode "lautes Denken" besuchten sie schließlich ausgewählte Läden. Aus Sicht eines Jugendstraftäters artikulierten sie ihre Eindrücke und Gedanken und zeichneten auf Tonband auf, wodurch sie sich zu einem Diebstahl verleitet oder davon abgeschreckt fühlen würden.
Wichtiger Spaßfaktor
In einem zweiten Schritt wurden die Motive jugendlicher Ladendiebe erforscht. Mittels anonymisierter Online-Fragebögen wurden über 3000 Schüler in Oberösterreich befragt, die meisten zwischen 13 und 14 Jahren. Was sich bei der Motivanalyse herausstellte: Ladendiebstähle werden meist nicht aus ökonomischen Gründen begangen. Der Ladendiebstahl ist typischerweise ein Gruppendelikt, sagt Hirtenlehner. Nur selten wird im Alleingang gestohlen. Es gehe dabei nicht darum, eine Mutprobe zu bestehen, sondern um "Spaß, Spannung und Unterhaltung". Vor allem kann der Ladendiebstahl, wenn er in einer Gruppe begangen wird, " statusbildend wirken", sagt der Kriminologe aus Linz.
Dass Ladendiebstähle mehrheitlich von Frauen begangen werden, sei ein Klischee. Mehrheitlich betätigen sich Männer als Langfinger in Geschäften. Der Ladendiebstahl ist dennoch das bevorzugte Strafdelikt unter Frauen: Hirtenlehner glaubt, weil es zumeist ungeplant passiert und sich Frauen länger und öfter in Geschäften aufhalten als Männer.
Laut der polizeilichen Kriminalstatistik ist die Kriminalität von Jugendlichen zwischen 14 und 18 Jahren mit 28.045 Tatverdächtigen österreichweit 2011 zuletzt leicht zurückgegangen. 2010 waren es noch 29.306. In der Langzeit-Beobachtung lässt sich allerdings eine deutliche Zunahme verzeichnen: 1900 sind nur 19.164 Jugendliche zwischen 14 und 18 Jahren als Tatverdächtige ermittelt worden.
Während in der generellen Kriminalstatistik die Altersspitze bei Strafdelikten zwischen 25 und 40 Jahren liegt, zeigt sich bei Ladendiebstählen ein anderes Bild. "Der Ladendiebstahl ist ein klassisches Jugenddelikt", sagt Hirtenlehner. Die Altersspitze liegt hier schon bei 15 Jahren, danach ist die Anzahl der Diebstähle mit zunehmendem Alter rückläufig.
Ziel des Projekts, das noch bis Ende September dieses Jahres läuft, ist nicht nur, Häufigkeit und Motive dieser Delikte zu erforschen, sondern auch Empfehlungen zu formulieren: Was können Geschäftsinhaber und Schulen tun, um die Zahl der Diebstähle zu reduzieren? (Tanja Traxler, DER STANDARD, 23.5.2012)