"Den Politikern fehlt die Reformleidenschaft. Es fehlt diese Unruhe - und die ist bei dem Wutbürgern zum Teil vorhanden": Manfried Welan.

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Der langjährige Uni-Rektor und ÖVP-Politiker Manfried Welan wirft der SPÖ-ÖVP-Regierung allzu viel "ideologische Anhänglichkeit in Bildungsfragen" vor. Die Fragen stellte Lisa Nimmervoll.

STANDARD: Im zweiten, Dienstagabend präsentierten Teil Ihrer Memoiren, der nach Teil eins über die Kinder- und Jugendjahre Ihrer Berufsbiografie gewidmet ist, findet sich eine Kritik ungefähr ein halbes Dutzend Mal: "Die Tradition der Vernachlässigung prägte unsere Universitäten jahrzehntelang." Oder: "Denn die Tradition der Vernachlässigung war eine Konstante der Hochschulpolitik unserer Republik." Wieso ist das bis heute so?

Welan: Weil Geist in Österreich wenig gilt. Wir haben zwar die Wirtschafts- und Sozialpartnerschaft, aber wir haben den geistigen Arbeitsbereich nicht in sie hineingebracht - und auch nicht in die große Koalition. Darum gab es in den Regierungserklärungen bis in die 1970er-Jahre kaum Wissenschaft und Universität. Das bleibt natürlich. Ich bin schon in den 80er-Jahren herumgegangen mit der Klage, dass die Uni München mehr Geld und Personal hat als alle österreichischen Unis zusammen. Jetzt ist es besser.

STANDARD: Reicht besser? Die Unis klagen ja permanent - zu Recht?

Welan: Wir haben immer zwei Dinge haben wollen: Autonomie und mehr Geld. Mehr Autonomie haben wir bekommen, mit dem Geld wird es immer hapern. Die Frage, wo fehlt es am Geld, darf so wie die Studiengebühren nicht universell gesehen werden, sondern hinsichtlich der einzelnen Unis und Studienrichtungen. Dazu kommt, dass die Zeitstruktur - die Organisation der Zeit an den Universitäten - nicht optimal ist.

STANDARD: Was heißt das konkret?

Welan: Das heißt, Lehre um sieben Uhr in der Früh beginnen und bis 22 Uhr am Abend und den ganzen Samstag dazunehmen. Eine andere Verteilung von Zeit und Raum.

STANDARD: Zum Thema Zeit schreiben Sie den schönen Satz: "Das Universitätsstudium soll die goldene Zwischenzeit sein, die ein wenig an das goldene Zeitalter erinnert. Durch die Distanz zum praktischen Leben entsteht Universitätskultur, das heißt aber auch: Zeit haben und sich Zeit lassen." In Zeiten des beschleunigten Bachelor-Master-Systems eine unwiederbringlich verlorene Idylle?

Welan: Mag sein. Ich bin noch immer ein Vertreter davon, dass man den Universitäten und Studenten ihre Zeit lassen soll. Der Zeit ihre Studenten, den Studenten ihre Zeit, könnte man das Motto der Secession variieren. Ich bin für Entschleunigung. Natürlich kann man es unterschiedlich machen, etwa am Anfang mehr Tempo und mehr Druck, aber später, ins freie wissenschaftliche Arbeiten übergehend, bedarf es der Muße.

STANDARD: Sie waren drei Amtsperioden lang Rektor der Boku und sind Jurist. Würden Sie jetzt als Rektor an den Senat einen Studiengebührenantrag stellen? Ihr Nachfolger an der Boku tut es nicht.

Welan: Es gibt juristische Probleme, aber die sind immer zu lösen. Warum war ich seinerzeit gegen Studiengebühren? Wenn die Universität so schlecht ausgestattet ist mit Personal und Geld, dann kann ich nicht Studiengebühren verlangen. Wenn die Ausstattung der Unis den internationalen Standards entspricht, wäre ich auch dafür. Ich glaube, dass unser Rektor an der Boku richtig entschieden hat, weil es falsch wäre, gegen die Studenten zu entscheiden.

STANDARD: Wie gefällt Ihnen grundsätzlich, dass die Regierung die Gebühren über die Bande an die Unis gespielt hat, weil SPÖ und ÖVP zu keiner Einigung gekommen sind?

Welan: Ich bin kein großer Gegner der Koalitionsregierung. Auch weil ich glaube, dass sie die beste Anwendung des Prinzips der Gewaltenteilung à la Montesquieu ist. Er hat gemeint, durch die Natur der Dinge, die Lösungen verlangt, wird sich das von selber geben, Blockaden und so weiter. Das scheint bei uns durch die ideologische Anhänglichkeit in Bildungsfragen nicht so zu sein. Dabei wäre es eine Leichtigkeit, hier zu einer Lösung zu kommen.

STANDARD: Wie sähe die aus?

Welan: Beide Parteien müssen ihre ideologischen Vorurteile etwas zurückstellen und zu einem Kompromiss kommen.

STANDARD:  Heißt das Studiengebühren einführen und die gemeinsame Schule realisieren?

Welan: Ja, genau.

STANDARD: Sie als ÖVPler unterstützen also eine gemeinsame Schule?

Welan: Ja. Das war auch der internationale Weg. Man soll sich diesen Entwicklungen nicht verschließen

STANDARD: Sie haben fünf Universitätsreformen "überlebt". Was wäre jetzt am dringendsten zu tun?

Welan: Am dringendsten wäre die Stellung des wissenschaftlichen Nachwuchses zu verbessern. Wir brauchen mehr Personal in Forschung und Lehre. Da haben wir noch lang nicht internationalen Status erreicht.

STANDARD: Sind Sie für den freien Hochschulzugang?

Welan: Ich hätte nichts gegen Aufnahmsprüfungen. Aber ich würde schon die Matura anders gestalten. So wie ein Absolvent der Pflichtschule schon mit 15 wissen muss, was er als Lehre oder Weiterbildung macht, so kann man wohl von 16-Jährigen im Gymnasium erwarten, dass sie wissen, wo ihre Eignung und Neigung ist und welches Studium sie machen wollen. Die Unis müssten sich diesen Leuten, natürlich mit mehr Personal, öffnen, sodass die Matura dann sozusagen nur mehr der letzte Abschnitt dieses Vorprüfens oder Trainings für das Studium ist. Jetzt ist die Matura ein Eiserner Vorhang, der die höheren Schulen von den Unis trennt. Da brauchen wir mehr Verbindung. Darin sehe ich auch die Lösung für die Frage der Studierfähigkeit.

STANDARD: Sie haben sich in Ihrer wissenschaftlichen Arbeit viel mit Demokratiefragen beschäftigt. Die Demokratieretter haben Hochkonjunktur. Wieso sind Sie nicht beim Demokratiebegehren "MeinOE"?

Welan: Ich bin nicht so unzufrieden wie die meisten. Ich bin kein Wutbürger. Enttäuscht wird man nur immer wieder, wenn zum Beispiel mit großem Aufwand alles für die große Verfassungs- und Verwaltungsreform vorbereitet ist - und nicht durchgezogen wird. Dann wundert man sich und denkt: Worauf warten die noch? Es ist meistens eher inkonsequent. Die Unvereinbarkeitsregeln für Politiker haben Juristen und Politologen schon Dutzende Male als nicht zweckmäßig und zu wenig kritisiert, aber es ist offenbar kein großer Wille da, das zu ändern.

STANDARD: Warum nicht?

Welan: (lacht) Ich will die Regierung nicht verteidigen, aber ich glaube, sie hat einen großen Zeitaufwand für Brüssel, und dadurch fehlt die Zeit für die Innenpolitik. Auch die Leidenschaft der Politiker ist ein Problem, dass sie sagen: "Gut - Demokratisierung, das ziehen wir jetzt durch." Es fehlt diese Reformleidenschaft. Es fehlt diese Unruhe - und die ist bei den Wutbürgern zum Teil vorhanden.

STANDARD: Ist Wut vielleicht eine Kategorie des Alters?

Welan: Da komme ich zu einem Bonmot - oder Malmot - meiner Jugend, das lautet: In Österreich gab's immer mehr grantige alte Herren als zornige junge Männer. Aber es stimmt in gewisser Weise, weil: Altwerden macht frei. Und so sind diese Senioren aufgrund ihrer Vitalität im Vordergrund. Ich halte es für sehr gut, weil es quasi ein informeller Rat der Alten ist. (Lisa Nimmervoll, DER STANDARD, 23.5.2012)