Das amerikanische "Foreign Policy"-Magazin hat mit seiner letzten Ausgabe für einige Aufregung gesorgt.

Thema waren die Stellung der Frau in muslimischen Gesellschaften und die Auswirkungen des Arabischen Frühlings auf Geschlechterbilder und sexuelle Emanzipation. Ein Reizthema, dem die Redaktion durch Titelbild (Bodypainting-Burka) und Titelwahl ("Why Do They Hate Us?") noch eine Extraportion Schärfe verpasst hat. Dementsprechend viel Kritik hat die Autorin der Titelgeschichte, die ägyptische Aktivistin und Frauenrechtlerin Mona Eltahawy, auch für ihren Text einstecken müssen (siehe beispielsweise hier, hier und hier).

Wer denkt, fünfzig Prozent der arabischen Bevölkerung per Freud'scher Ferndiagnostik verstehen zu können und gleich auf dem Titelbild zwei kulturelle Klatschen (visuell und rhetorisch) verteilt, rechnet damit. Angst, Hass, Titten - nur der Wetterbericht hat noch gefehlt.

Online gibt's mehr

Ich habe kurz überlegt, mir die gedruckte Ausgabe zu kaufen. Zum Glück habe ich die Texte am Ende doch online gelesen - und das vor allem aufgrund der Leserbriefe. 2.255 Kommentare standen gestern unter dem Leitartikel, ein wilder, emotionsgeladener Mix aus starken Meinungen, Koranzitaten ("one who treats badly those under his authority will not enter paradise" - al tirmidhi hadith 3358), Links, Statistiken, Analysen des Textes, und wiederum Analysen dieser Analysen. Wer aktuell an einer Forschungsarbeit zur Stellung der Frau im arabischen Raum schreibt, bekommt hier die Recherche auf dem Tablett geliefert.

"Foreign Policy" ist damit kein Einzelfall. "Zeit Online" hatte pünktlich zum Weihnachtsfest 2011 die Sozialreportage "Maria und Josef im Ghetto des Geldes" veröffentlicht. Ein Reporter und eine Schauspielerin waren als Obdachlose verkleidet in Deutschlands wohlhabendste Gemeinde Kronberg im Taunus gereist, um dort einmal im Selbstversuch zu erfahren, wie weit es denn eigentlich her sei mit der vielbeschworenen christlichen Nächstenliebe (das Fazit: nicht besonders). Leser und Anwohner debattierten danach in den Kommentarspalten - so kontrovers, dass sich die Reporter letztendlich entschlossen, zu einer offenen Diskussion zurück nach Kronberg zu fahren.

Bei der "Washington Post" wird aktuell die Rolle der republikanischen Partei in über 5000 Kommentaren diskutiert. Wenn wir von der Veränderung "des Journalismus" sprechen, sind damit also nicht nur die Redaktionen gemeint, sondern immer auch das Ökosystem, innerhalb dessen wir operieren. Das redaktionell recherchierte und polierte Kernprodukt wird dabei zunehmend ergänzt durch externen Mehrwert - Links, Tweets, und eben auch die Kommentare der eigenen Leser. Das Rennen um Klickzahlen wird zunehmend ergänzt durch ein Rennen um Inhalte und Expertise, die von den Lesern selbst kommen. Dazu drei Gedanken:

1. Die Mauer muss weg

Die Vorstellung, dass der ausgebildete Journalist durch sein Amt einen Kompetenzvorsprung bei allen Themen habe, über die im Laufe einer Woche so geschrieben wird, war schon immer Humbug. Wer seine Leser einbeziehen kann - nicht nur als Lieferanten von wackeligen Fotos versteht, sondern als externe Kritiker, Rezensenten, Informanten und Diskussionspartner, der vervielfacht die Expertise und Energie, die in einen Text fließen können. "Als Journalist", so der US-Journalismusprofessor und Autor Dan Gillmor auf einer Konferenz, "bin ich schon lange davon ausgegangen, dass meine Leser oftmals mehr wissen als ich selbst - und das ist sehr befreiend." Nicht umsonst hat beispielsweise die Zeitung "The Guardian" kürzlich sogar die interne tägliche Themenplanung öffentlich gemacht. Leser können bereits vor der Veröffentlichung eines Textes mit den betreffenden Autoren in Kontakt treten.

Viele Journalisten haben sich lange schwer damit getan, die Konkurrenz zur eigenen Schreibe ernst zu nehmen und haben eher vorschnell darauf verwiesen, dass im Netz sowieso auf Schulhofniveau argumentiert werde, oder eher gekeilt und gestritten, und noch dazu unter dem Deckmantel der Anonymität. Doch für eine neue Generation - siehe Brian Whitaker, siehe Andy Carvin - sind diese Interaktionen inzwischen so alltäglich geworden, dass jede Unterscheidung zwischen online/virtuell/amateurhaft und offline/real/professionell absurd erscheint.

2. Gleich und gleich gesellt sich gern

"Zeitungen", hat Mathew Ingram bereits 2009 geschrieben, "bekommen die Leser, die sie verdienen." Wer gute Inhalte ins Netz stellt und aktive Partizipation unterstützt, kann auf externe Mehrwerte hoffen.

Die Gawker-Mediengruppe hat Anfang 2011 im Zuge eines grundlegenden Re-Designs die ausufernden Diskussionsforen durch eine Kommentarstruktur ersetzt, in der Leser die Beiträge anderer Leser durch eine "Like"-Funktion nach oben oder unten wählen konnten. Wer gute Beiträge geschrieben hat, war auf einmal prominent auf der Seite vertreten. Wer krudes Zeug und Beleidigungen in die Tastatur haute, wurde entweder von den hausinternen Redakteuren ermahnt oder von der Community ins digitale Nirvana befördert. Die Anzahl der Kommentare sank um vierzig Prozent, die Qualität stieg enorm.

Die neueste Version des Kommentarsystems gibt seit April 2012 jedem "Gawker"-Leser die Möglichkeit, eigene Beiträge und Antworten anderer zentral einzusehen, zu verwalten, und über soziale Netzwerke zu verbreiten. Belohnt wurde die Redaktion dafür mit steigenden Leserzahlen und einer Diskussionskultur, die von 4chan- und Youtube-Kommentaren etwa so weit entfernt ist wie die FDP vom Status als Volkspartei. "Die meisten Medienhäuser würden für solche Leser über Leichen gehen," schreibt der US-Medienkritiker Andrew Phelps nicht zu Unrecht. Die Soziologie kennt dieses Phänomen als "broken window effect": Wenn in einer Nachbarschaft viele leer stehende Häuser mit kaputten Fenstern zu sehen sind, kann man mit großer Sicherheit darauf spekulieren, dass die Kriminalität weiter zunehmen wird. Ist die Gegend dagegen sauber, sinkt die Kriminalität tendenziell. Gutes Verhalten spornt andere an, sich ebenfalls an Regeln und Konventionen zu halten.

3. Mehr Macht für jeden

Mehr Macht für jeden. Spätestens seit der Aufnahme des "Likens" in die Alltagssprache ist die Idee des Mitteilens und Mit-anderen-Teilens allgegenwärtig. Offen war dagegen die Frage, wie sich inmitten der Kakophonie das Sinnvolle vom Sinnlosen trennen lässt, und wie die Reichweite des einen maximiert und die des anderen minimiert werden kann. Doch zunehmend haben wir technische Werkzeuge zur Hand, die den neuen Konventionen des Netzes gerecht werden. Das Stichwort: Mehr Macht für jeden! Rating-Systeme (wie beispielsweise bei "Gawker") erlauben es dem Einzelnen, über die Qualität von Leserbeiträgen zu entscheiden und erleichtern das Teilen von eigenen und fremden Inhalten über Plattformgrenzen hinweg.

Spätestens seit dem Aufkommen von Kommentarplattformen wie Disqus verringert sich der Graben zwischen klassischen Kommentaren und dynamischen, autarken Mikroblogs wie Tumblr. Womit wir wieder bei Mathew Ingram wären: Eine Webseite, die die eigenen Leser ernst nimmt und Möglichkeiten zur Diskussion schafft, wird oftmals mit besseren Kommentaren belohnt - und gewinnt dadurch wiederum an Attraktivität.

Das Wikipedia-Prinzip der horizontal organisierten und sich selbst verwaltenden Community findet auch hier wieder Anwendung: die Kombination aus digitalen Konventionen und technischen Werkzeugen erlaubt die Kanalisierung des Meinungsstroms, ohne dabei auf Zensur und Kontrolle von oben zu setzen. Die Heerscharen von Praktikanten, die heute auf Nachrichtenseiten oftmals die Einhaltung der Netiquette überwachen, werden irgendwann überflüssig sein (und können ihre Zeit dann vielleicht für Besseres verwenden als bezahlungsfreies Klicksklaventum).

Vor einiger Zeit habe ich an dieser Stelle einen Text zum Populismus im Netz geschrieben und argumentiert, dass auch die krudesten Verschwörungstheoretiker uns nicht vom Dagegen-Anschreiben abhalten sollten. Heute lese ich immer häufiger Artikel sogar ganz gezielt aufgrund der Leserkommentare - und damit bin ich zum Glück nicht der Einzige. Grafisch sind die Leserkommentare immer noch unter dem eigentlichen Beitrag zu finden - inhaltlich sind viele schon längst auf Augenhöhe. (Martin  Eiermann, derStandard.at, 18.5.2012)