In den vergangenen Tagen war verwunderliches Zwitschern zu hören: Minister Schäuble meint, höhere Löhne in Deutschland wären dem Wachstum zuträglich; der deutsche Bundesbankgouverneur sogar, dass die EZB höhere Inflation zulassen könnte; der IWF warnt Deutschland vor zu krassem Budgetsparen, Frau Merkel sprach von einem Wachstumsprogramm und, und, und. Ist das die längst überfällige Wende in der europäischen Wirtschaftspolitik, die Erkenntnis, dass volkswirtschaftliches Sparen auch zum Tod, d. h. zur Weltwirtschaftskrise führen kann?

Ich meine, eher nicht: Das sind nur Erstreaktionen auf die Wahlergebnisse in Griechenland und Frankreich vom vergangenen Sonntag, wo das Stimmvolk massiv gezeigt hat, dass es die verfehlte Wirtschaftspolitik der EU-Eliten nicht gewillt ist mitzutragen, ebenso wie in neun anderen EU-Ländern, deren regierende Parteien im Zuge der Krise abgelöst wurden.

Konstruktionsfehler

Aber es ist doch auch ein Hoffnungsschimmer, auf dem es aufzubauen gilt. Der demokratiepolitisch und ökonomisch desaströse Fiskalpakt, die Spardiktate für Griechenland und die anderen peripheren EU-Länder, der Extremfokus auf Budgeteinsparungen und Reduzierung der Schuldenquote haben eine deutliche Absage bekommen. Die drohende Verarmung breiter Bevölkerungsschichten sowie die fast überall stark zunehmende Arbeitslosigkeit treiben Europa in eine tiefe weitere Rezession - nachdem die erste Phase 2009/10 noch mit massiven Konjunkturprogrammen bekämpft worden war.

Jetzt zeigt sich einmal mehr, dass die Verfasstheit der Eurozone verfehlt und die Ausrichtung der EU-Wirtschaftspolitik sogar für ihre eigenen definierten Ziele kontraproduktiv ist: Trotz massiver Budgetkürzungen steigen die Defizit- und Schuldenquoten weiter, weil die Wirtschaften nicht wachsen oder gar schrumpfen, die Steuereinnahmen entsprechend zurückbleiben und die rezessionsbedingten öffentlichen Ausgaben ("automatische Stabilisatoren") zunehmen. Ja, wir müssen die Schuldenquoten reduzieren, da der Zinsendienst produktive Staatsausgaben verdrängt und die ohnedies verfehlte Einkommensverteilung weiter verschlechtert. Aber wir müssen zuallererst die Krise bekämpfen, um dann die Sanierungsaufgaben erfolgreich durchführen zu können. Umgekehrt geht es nicht: weder ökonomisch noch politisch, wie die Demonstrationen zeigen.

Wenn die europäische Gesamtnachfrage ungenügend zur Auslastung des Arbeitskräfte- und Maschinenpotenzials ist, dann muss die öffentliche Hand dafür sorgen, dass es nicht zu einer sich verstärkenden Abwärtsspirale kommt, und muss Nachfrage schaffen. Wenn die privaten Haushalte mangels Einkommens und aus Angst vor der Zukunft nicht konsumieren, wenn aufgrund der schwachen Nachfrage die Unternehmen nicht investieren, wenn in Europa niemand importieren will, dann muss der Staat die notwendige Nachfragelücke füllen: natürlich nicht mit "sinnlosen" Ausgaben, sondern mit solchen, die das langfristige Wachstumspotenzial stärken (Infrastruktur, Ausbildung, Forschung) und den gesellschaftlichen Zusammenhalt sichern (Kinderbetreuung, Armutsbekämpfung, Arbeitsplatzschaffung).

Für die europäische Ebene und die Eurozonenebene heißt dies, dass die Staaten mit guten Budgetdaten und Leistungsbilanzüberschüssen ihren Fiskalspielraum nützen müssen, um kurzfristig Gesamtnachfrage in Europa zu schaffen: im Privatsektor durch steigende Löhne und Investitionen, im öffentlichen Sektor durch wachstumssteigernde Budgetausgaben. Wodurch auch die Peripheriestaaten Wachstumspotenzial gewinnen.

Institutionell bedeutet dies, die gemeinsame Geldpolitik durch eine gemeinsame Haushaltspolitik zu ergänzen ("Fiskalunion"), die aber nicht einseitig, wie der Fiskalpakt, nur auf Budgetkonsolidierung ausgerichtet ist.

Die nächste Ebene, wo ein gemeinsamer Währungsraum mit grenzüberschreitendem Finanzsektor mehr "Union" braucht, betrifft die Banken: Die Renationalisierung im Bankenwesen, die durch die je eigenen Rettungs- und Rekapitalisierungsprogramme der einzelnen EU-Länder durchgeführt wurde, schwächt insgesamt das EU-Bankensystem, führt zu divergierenden Regulierungen und zum Versuch, die notwendigen Lasten anderen aufzubürden. Wir brauchen daher so etwas wie eine "Bankenunion" - und last but not least auch eine "Finanzunion", das heißt eine gemeinsame Finanzierung der EU-Staatsfinanzen.

Grundsätzlich wäre dabei zu überlegen, die wichtige öffentliche Aufgabe der Finanzierung von Staaten den Irrationalitäten, Kurzfristigkeiten und Renditeanforderungen privater Finanzmärkte zu entziehen und einer öffentlichen Institution, die demokratisch legitimiert und überwacht ist, zu übertragen. Das könnte die EZB (mit neuem Mandat) oder ein verstärkter Stabilitätsmechanismus (ESM) sein.

Kurswechsel überfällig

Fazit: Langsamere Budgetkonsolidierung, Nutzung des Fiskalspielraums der Überschussländer, gemeinsame Staatsfinanzierung und Bankenregulierung sowie die Auflegung neuer Wachstumsprogramme durch Nutzung bestehender EU-Mittel und neuer Mittel der starken Staaten für Wachstumsbereiche und sozialen Zusammenhalt sowie die Erweiterung des EZB-Mandats in Richtung Finanzsektorstabilität und Wachstum - das wären die sinnvollen Elemente einer neuen, breiteren EU-Wirtschaftspolitik, mit der die Krise ein für alle Mal überwunden werden könnte.

Die Situation ist ernst: Elf gestürzte Regierungen zeigen, dass die Bevölkerungen nicht mehr gewillt sind, das verengte, nur den Finanzsektor benefitierende Budgetsparprogramm auf Teufel komm raus hinzunehmen. Das Zwitschern der ersten "Wachstumsschwalben" bedeutet aber noch keine Änderung der Politik ebenso wenig wie der Ruf nach "Strukturreformen" allein. Fest steht: Der Fiskalpakt hat in der jetzigen Form keine ökonomische und politische Zukunft. Er sollte rasch in Richtung einer umfassenden krisenüberwindenden Wirtschaftspolitik geändert werden. (Kurt Bayer, DER STANDARD, 16./17.5.2012)