Foto: Fischer

STANDARD: Ist es eine Frage von Mut, eine 50-jährige Sextouristin in Afrika zu spielen?

Margarethe Tiesel: Ehrlich gesagt, hatte ich am Anfang keine Ahnung, worum es genau geht. Eva Roth, die das Casting gemacht hat, rief an und hat gemeint, für einen Ulrich-Seidl-Film wird die Rolle der Sugarmama gesucht. Beim ersten Casting 2007 dachte ich: "Super, das probiere ich." Ulrich Seidl war da noch gar nicht dabei. Man musste Situationen improvisieren. Als ich dann einmal im Winter den Bikini mitbringen sollte, dachte ich allerdings schon: "Aha ..."

STANDARD: Was ist denn eine Sugarmama genau?

Tiesel: Das ist eine Frau, die ein paar Mal im Jahr nach Afrika reist und dort einen Liebhaber unterhält. Der wird umfassend finanziell unterstützt - da gibt es die abstrusesten Verwicklungen. Bei der Recherche habe ich mit Sugarmamas gesprochen. Sie sitzen zum Beispiel am Strand an der Bar und haben ihre Hand auf dem Schenkel ihres jungen schwarzen Liebhabers liegen. Das sind tolle Eindrücke und tolle Frauen, die eben nicht allein in einem Zimmer in Dortmund sterben wollen. Ich verstehe jede Frau, die das macht.

STANDARD: Sie finden Bestätigung - auch ein anderes Schönheitsbild?

Tiesel: Wenn du einen ordentlichen Hintern hast, dann bist du sexy - ich bin mir dort zwanzig Jahre jünger vorgekommen. Man fühlt sich wieder begehrt - selbst wenn es manchmal nervt, nicht in Ruhe an den Strand gehen zu können. Es gibt unter den Sugarmamas natürlich auch Enttäuschte. Viele Beachboys haben gleich mehrere Sugarmamas, die meisten haben Familie und Kinder. Um diese zu ernähren, machen sie das auch.

STANDARD: Mit welchem Bild der Filme von Ulrich Seidl im Kopf sind Sie denn in den Dreh gegangen?

Tiesel: Natürlich fragt man sich am Anfang, kann ich das? Seidl arbeitet ja mit Improvisationen. Nichts ist vorgegeben, das Drehbuch sollte ich nicht sehen. Man muss fantasievoll sein. Was hatte ich schon zu verlieren? Ich dachte, wenn ich das nicht mache, ärgere ich mich ein Leben lang. Und es war die tollste Arbeit, die ich je gemacht habe.

STANDARD: Nicht einmal das Setting und der Rahmen sind beim Dreh vorgegeben?

Tiesel: Man schaut sich die Disposition der Szenen irgendwann nicht mehr an, weil es eigentlich wurscht ist. Am besten springt man rein und macht' s. Seidl sagte, er könne mir nur sagen, wenn etwas nicht stimmt.

STANDARD: Lässt man dann mit der Zeit zunehmend mehr zu? Oder wie bringt Seidl einen dazu, an die eigenen Grenzen zu gehen?

Tiesel: Ich würde auch gern wissen, wie es funktioniert. Es funktioniert einfach. Er schafft es, einen als Menschen so ernst zu nehmen, dass man keine Angst hat und das zulässt. Zugleich habe ich mich selten so erkannt gefühlt: Es gibt Menschen, die einen klein machen, und es gibt welche, die einen groß machen. Ulrich Seidl hat mich groß gemacht. Es ist auch ein Unterschied, ob man auf der Bühne nackt ist oder im Kino.

STANDARD: Inwiefern?

Tiesel: Im Film ist man sozusagen mit Zelluloid angezogen. Da gibt es keine unmittelbare Reaktion. Man überwindet die eigenen Schamgrenzen leichter.

STANDARD: Ist das in "Paradies: Liebe" denn eine Frage der Nacktheit oder eine der Aufrichtigkeit?

Tiesel: Eine der Ehrlichkeit. Es ist viel schwieriger, etwas ehrlich zu machen, als sich einfach auszuziehen. Diese Ehrlichkeit ist etwas, das Ulrich Seidl permanent verlangt - mir fällt das allerdings nicht so schwer. Der persönliche Anteil ist in der Arbeit mit ihm viel größer. Mir war es auch wichtig, dass es die Rolle einer Frau ist, die nicht nur Sex sucht, sondern dass es ihr um mehr geht - um Liebe, um Akzeptiertwerden, auch wenn man dick ist und einen größeren Hintern hat. Das können, glaube ich, viele Frauen nachvollziehen.

STANDARD: Provoziert die Kamera eine andere Körperlichkeit?

Tiesel: Das Körperliche ist im Film ja gar nicht so arg - die Beachboys sind viel zu gschamig gewesen.

STANDARD: Wie war da das Zusammenspiel - das sind ja alles Laien?

Tiesel: Ja, aber ich bin ja keine reine Stadttheaterschauspielerin. Ich war zwar elf Jahre in Deutschland fix engagiert, aber ich habe auch so viele andere Dinge gemacht. Ich habe mit Laien eine Gruppe geleitet, mit Schwarzafrikanern und Asylanten gearbeitet - ich hatte keine Berührungsängste mit jemandem, der nicht so versiert ist. Seidl will ohnehin, dass die Schauspieler ganz pur aufeinandertreffen.

STANDARD: Wird der Film in Cannes viel Erregung provozieren?

Tiesel: Das glaube ich gar nicht. Ich habe ja dafür gesorgt, dass er lustig wird. (Dominik Kamalzadeh, DER STANDARD, 16./17.5.2012)