Der sportive Chor der elterlich Betroffenen: Das Ensemble des Residenztheaters mit Sängerin Polly Ester (sic!, 3. v. re.).

Foto: Thomas Dashuber

Die passende Schlagzeile zu Kathrin Rögglas Musikstück Kinderkriegen schmückte schon  am Muttertag nach der Uraufführung  die Titelseite der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. "Schulstress: Die Eltern sind schuld", verbreitete die FaS, bestimmt kein Zentralorgan der Familienfeindlichkeit.

Aber auch Rögglas neues Textoratorium lässt im blattgoldenen Rahmen des Münchner Cuvilliés-Theaters keinen Zweifel. Elterliche Fürsorge entwickelt sich zum Stressfaktor Nummer eins für das gesamte Erziehungswesen. Die jungen Alten beglucken ihre Küken ohne Unterlass; sie nehmen den Kleinen die wenigen, kindergerechten Entscheidungsbefugnisse weg und werden darob auch noch selbst infantil.

Rögglas neue Etüde darf geradezu als Hör-Lehrstück mit ein bisschen eingeschränktem Szenenbetrieb gelten. In einer Gesellschaft mit derart niedrigen Geburtenraten wie der unseren wird die Beschäftigung mit dem Nachwuchs zur Obsession. In Kinderkriegen ist die "Katastrophe" sozusagen bereits passiert: Die Kids sind in die Welt gesetzt. Von nun an kreisen die Eltern wie Planeten um ihre förderungswürdigen Kleinen. Praktischerweise treten die Sprösse in Kinderkriegen nie auf.

Als Spielplatz für besorgte Erzeuger dient in München ein hohes, hölzernes Teleskop (Bühne: Stefan Hageneier). In dieser perspektivisch sich verjüngenden Wiederaufbereitungsanlage geplagter Eltern und solcher, die das Kinderkriegen noch verweigern, herrscht eiserner Konkurrenzdruck. Ein betont alternativ gekleideter Musterpapa (Gunther Eckes als "Engagierter") spricht im Inneren eines ICE-Wagons auf seinen unsichtbaren "Henry" ein: "Aber wir sind ganz leise, Henry, wir schaffen das, ja?"

Einer weithin unhinterfragten Maxime der Pädagogik wegen werden Kinder und Jugendliche nämlich als Gleichberechtigte behandelt: als kleine Musterdemokraten, die in den Kindertagesstätten am besten im Plenum über die Verabreichung von Blattspinat abstimmen sollen.

Entlarvende Sätze

Es ist nichts weniger als meisterhaft, wie Röggla den scheinliberalen Diskurs all der familiär Besorgten und Betroffenen in lauter entlarvende Sätze zerlegt. Es schmeichelt auch dem Schönheitssinn, wie Regisseurin Tina Lanik ihre acht Pappenheimer - unter ihnen Typen wie die "Alte Mutter", ihr Mann als "Spätberufener", eine "Rabenmutter" oder ein " Bundestagsabgeordneter" - immer wieder neu in Chören gruppiert. Es gibt kein Entkommen aus der zentrifugierenden Trommel des elterlichen Dauerengagements. Da können sich die Damen und Herren aus dem Ensemble des Residenztheaters noch so verbiegen oder, den Schacht auf der Suche nach Schlafplätzen hochkletternd, der Schwerkraft der Verhältnisse trotzen.

Was alles nicht von der Tatsache ablenkt, dass Röggla - soeben mit dem Arthur-Schnitzler-Preis für Gegenwartsdramatik ausgezeichnet - von einer weiterreichenden szenischen Aufbereitung ihrer subtilen Erkenntnisse nichts wissen will. Insofern ist Lanik ihre ideale Assistentin.

Zwar reist die Elterngesellschaft angeblich im ICE nach Süddeutschland. Dort bezieht die fidele Gruppe ein Wellnesshotel, verschwindet auf einem Spielplatz und macht in einer Kinderklinik Station. Glauben möchte man das alles nicht. Rögglas Text bezieht seine Weihen aus Sätzen wie diesem: "Sehen Sie, auch ich tue mich mit dem Mittagessen schwer. Ich mache es quasi nur aus Pflichtgefühl, damit Essen als soziale Situation an die Kinder herangeführt wird und sie später nicht fett werden." Ein Abend wie eine Kindermilchschnitte: reueloser Genuss. Ersetzt aber keine Mahlzeit. (Ronald Pohl aus München, DER STANDARD, 14.5.2012)