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Es gebe in China Gesetze, aber es gebe kein Rechtssystem, meinte jüngst ein Professor der Pädagogischen Hochschule von Peking zu mir. Ein solches Rechtssystem existiert in der Tat weder in den Köpfen der da oben noch der da unten. Beide Seiten wurschteln sich auf je ihre Art durch und stehen sich dabei in nichts nach. Es gibt keine Zensur, meinte ebenfalls jüngst ein Professor der Ersten Fremdsprachenhochschule zu mir. Denn niemand weiß, was verboten ist und was nicht.

Von wegen "freier Westen"

Doch nicht alle Zensur ist politisch. Diese kann sich auch in eine Schutzmaßnahme kleiden. Als vor einiger Zeit bekannt wurde, dass Wang Hui, Chinas Star unter den Intellektuellen, in seiner Dissertation vor etwa zwei Jahrzehnten aus einem vorzüglichen englischsprachigen Werk zur chinesischen Geistesgeschichte abgeschrieben hat, da hagelte es Proteste. Man forderte eine Erklärung, eine Entschuldigung oder einen Rücktritt gar. Der "Angeklagte" hüllt sich seither in Schweigen, er ist weiter Professor an der angesehenen Tsinghua-Universität. Inzwischen verbietet aber die Partei jegliche Kritik an ihm, sodass die Zeitungsblätter in seiner Angelegenheit verstummt sind.

Sind Schutzmaßnahmen dieser Art nur ein chinesisches Phänomen? Nein, beileibe nicht. Im Frühjahr 2010 verfasste ich für ein bedeutendes Basler Museum einen Beitrag zur Lage der chinesischen Dichtung. Ein Katalog sollte eine Ausstellung zu den Künsten im Reich der Mitte begleiten. Was ich unentgeltlich zusammengetragen hatte, wurde nicht publiziert. Begründung: Ich sei zu kritisch. Ähnlich ist es mir mit Rezensionen für englischsprachige Fachzeitschriften ergangen, wo man ebenfalls der Meinung war, man müsse den einen oder die andere vor meiner offenen Meinung schützen.

Inzwischen ist die Zensur meiner Werke lange nicht mehr nur ein Phänomen des Festlandes allein, sondern ebenfalls des "freien Westens". Darüber spricht man jedoch hierzulande lieber nicht, denn eine Tatsache wie diese passt nicht in das Schwarz-Weiß-Klischee des "westlichen" Pressewesens. Man übernimmt lieber ungeprüft herkömmliche Ansichten bloß deswegen, weil sie dem eigenen Vorverständnis gerecht werden. Danach gilt jeder "chinesische" Schriftsteller als Dissident, wenn er sich als aus China "ausgewiesen" erklärt, aber dabei nur seine eigenen Vorteile sucht. Der kritische Journalismus hierzulande macht oftmals vor den Toren Chinas Halt, um sich der Klischees aus der Klamottenkiste zu bedienen.

Ohne Durchwurschteln geht es nicht

Da habe ich es natürlich schwer, meinen Studenten zu erklären, warum ich inzwischen in Peking arbeite und auch lebe. Dank meiner Mutter bin ich halber Wiener, habe also von Kindesbeinen an die Kunst des Durchwurschtelns erlernt. In einer Gesellschaft wie der chinesischen, wo vieles arkan ist, arbeiten auch die da unten mit den Mitteln ihrer österreichischen Kollegen. Wenn ich also eine Vorlesung zur deutschen Philosophie nach 1989 an der Universität Shantou wie im Frühjahr 2012 abhalte, trage ich konservative Denker vor, die zur Frankfurter Schule in Opposition stehen. Eine Apologie des Zufälligen verträgt sich nicht mit der Auffassung vom notwendigen Gang der Geschichte.

Doch erhebt jemand Protest? Nein, ich werde gar auf Wunsch der Studenten eingeladen, im Winter eine Vorlesung zur Theologie im 20. Jahrhundert abzuhalten, etwas, was zum atheistischen China eigentlich gar nicht passen dürfte. Und wie ist das alles zu verstehen? Ganz einfach, ohne Durchwurschteln auf allen Seiten hätte das fehlende Rechtssystem dem Land schon ein vorfristiges Ende bereitet, und ein solches wäre momentan für keine Seite gut, dazu ist die Welt derzeit zu sehr auf China angewiesen. Also wurschtelt alles mit, ob im Inland oder Ausland, meine eigene Person mit eingeschlossen. (Wolfgang Kubin, derStandard.at, 11.5.2012)