"Wissenschaft trägt dazu bei, Geschlecht, Rasse und Sexualität zu konstituieren", sagt Karen Barad von der University of California. Sie fordert mehr Verantwortungsbewusstsein.

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Karin Krichmayr sprach mit ihr über gerechte Forschung und Objektivität.

STANDARD: Sie verbinden Quantenphysik mit feministischer Theorie. Wo ist der Link?

Barad: Ich habe meine halbe Karriere an der Physikfakultät verbracht. Ich war dabei immer an Philosophie interessiert und engagierte mich für feministische Politik, die Antiatomkraftbewegung und soziale Gerechtigkeit. Diese verschiedenen Teile meines Lebens wollte ich unter einen Hut bringen. Mitte der 1980er-Jahre begann ich, Erkenntnisse aus der Physik mit feministischen Theorien, Wissenschaftsforschung und Philosophie zu kombinieren. Letztlich geht es mir darum, herauszufinden, wie Wissenschaft zu einer gerechteren und besseren Welt beitragen kann, wie wir Wissenschaft verantwortungsvoll betreiben können.

STANDARD: In welcher Form beschäftigen Sie sich derzeit damit?

Barad: Ich bin an der University of California Koleiterin eines Graduiertenprogramms zu Gerechtigkeit und Wissenschaft. Hier kommen Forscher aus verschiedensten Disziplinen – Kunst, Geistes-, Sozial-, Ingenieurs- und Naturwissenschaften – zusammen, um soziale und ethische Fragen gemeinsam mit wissenschaftlichen zu erörtern, und zwar direkt im Labor. Denn wenn man über die Folgen von Technologien nachdenkt, ist es schon zu spät, da das die Annahme voraussetzt, dass Werte erst durch den Gebrauch entstehen. Werte werden bereits gemeinsam mit den Fakten geschaffen. Das ist die Art von Fragen, an denen auch der Feminismus interessiert ist.

STANDARD: Kann Wissenschaft an sich gerecht oder ungerecht sein?

Barad: Wissenschaft verändert permanent unsere Welt. Es gibt ganz offensichtliche Veränderungen, wie die Erfindung der Atombombe, die auf der Arbeit von Physikern basiert. Hier geht es um Gerechtigkeit, auch wenn die Wissenschafter selbst nicht den Knopf drückten. Es gibt aber auch subtilere Formen, in denen Wissenschaft dazu beiträgt, Geschlecht, Rasse und Sexualität zu konstituieren. Wissenschaft ist ein Teil unseres alltäglichen Lebens, beeinflusst, wie wir uns selbst sehen, wie unsere Identität geprägt ist. Bei jeder wissenschaftlichen Entwicklung werden Bedeutungen und Werte produziert.

STANDARD: Heißt das, dass sich die Wissenschaft auch mehr politisches Bewusstsein zutrauen sollte?

Barad: Ja. In den USA wird das heftig debattiert. Wissenschafter ziehen nicht ihren weißen Mantel an und waschen ihre politischen Überzeugungen ab, bevor sie das Labor betreten. Nach dem Climategate 2009, als herauskam, dass Klimawandelskeptiker ausgebootet werden sollten, waren die Leute entsetzt, dass Wissenschafter möglicherweise politische Überzeugungen vertreten. Natürlich tun sie das. Die Frage ist, ob sie sie verstecken sollen. Es gibt eben nicht Fakten auf der einen und Werte auf der anderen Seite.

STANDARD: Wissenschaftliche Objektivität ist also überholt?

Barad: Es war immer Ziel der Feminist Studies, Objektivität nicht loszuwerden, aber sie zu überdenken. Objektivität bedeutet nicht, Werte, Politik und soziale und rechtliche Aspekte wegzuschieben – das gilt auch für Emotionen. Es ist also sehr wichtig für Wissenschafter, sich über ihre politischen Überzeugungen und Gefühle klar zu sein. Für die feministische Wissenschaftsforschung geht es bei Objektivität um Verantwortungsbewusstsein.

STANDARD: Sollten sich Naturwissenschafter mehr mit derartigen philosophischen Fragen beschäftigen?

Barad: Es gab eine Zeit, in der beide Richtungen verschmolzen waren und Wissenschaft als Naturphilosophie bezeichnet wurde. Mich interessieren besonders die 1920er-Jahre: Als die Quantenmechanik entdeckt wurde, gab es leidenschaftliche Debatten zwischen Nils Bohr, Werner Heisenberg und Erwin Schrödinger darüber, wie die Welt zu verstehen ist. Das war integraler Teil ihrer wissenschaftlichen Arbeit.

STANDARD: Wie ging diese Verbindung verloren?

Barad: Im Zuge der Machtergreifung durch die Nazis verließen viele Forscher Europa in Richtung USA. Hier war die Kultur ganz anders, für die noch junge theoretische Physik gab es keine Mittel. Die Theoretiker waren abhängig von den Experimentalphysikern, die auf vorhersehbare Ergebnisse aus waren. Heute noch werden Studenten gelehrt, Antworten parat zu haben, und nicht darüber nachzudenken, was sie bedeuten. Das ist schade, weil so ein Teil der wissenschaftlichen Kreativität geopfert wurde.

STANDARD: Niels Bohr ist eine wichtige Inspiration für Ihre Theorien der Wissenschaftsforschung. Wie hat er das Denken verändert?

Barad: Bohr hatte nicht die Einstellung, dass nur die Zahlen stimmen müssen. Er wollte verstehen, was die scheinbar inkonsistenten Ergebnisse der Quantenphysik zu bedeuten hatten, also warum Licht in bestimmten Experimenten Teilchenstruktur und in anderen Experimenten, wenn die Konfiguration des Messapparats leicht verändert wurde, Wellenstruktur zeigte. Er erkannte, dass die beobachtbaren Eigenschaften von der Art der Beobachtung abhängig sind, das Instrument also die Bedeutung in sich trägt. Bohr war überzeugt davon, dass der Grund, warum wir uns nicht mit diesem Paradoxon abfinden können, darin liegt, dass wir uns nicht über Bedeutung an sich Gedanken machen – das war ein radikaler Schritt. Für ihn bedingen sich Materie und Bedeutung gegenseitig und sind jeweils Teil des anderen. Bohrs Erklärungen werden heute durch neue Experimente zur Quantenverschränkung bestätigt, von denen viele hier in Österreich durchgeführt wurden.

STANDARD: Wollen Sie das Prinzip der Quantenverschränkung auf andere Bereiche übertragen?

Barad: Es interessiert mich nicht, Analogien zu ziehen zwischen der makro- und der mikroskopischen Welt. Wir nehmen an, dass die Newton'sche Mechanik eine gute Annäherung für große Objekte ist, aber die Schrödingergleichung erklärt letztlich die Welt. Bohrs Verständnis der Quantenphysik erfordert ein Umdenken hinsichtlich unserer Beziehungen mit allem in der Welt. Meine Theorie des "agentiellen Realismus" beruht darauf, Quantenphysik, Wissenschaftsforschung und feministische Theorien durch die jeweils andere Disziplin zu lesen, um gemeinsame Muster zu finden. So können Ideen aufeinander reagieren. Und das ist der Schlüssel zu einer verantwortungsvollen Wissenschaftspraxis. (Karin Krichmayr, DER STANDARD, 9.5.2012)

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Wissen: Schnittstellen

Die Genderforschung untersucht im Dunstkreis der Science-and-Technology-Studies seit den 1980er-Jahren das Verhältnis zwischen Geschlecht und Naturwissenschaften. Auch heute noch: Das Referat für Genderforschung der Uni Wien lädt regelmäßig internationale Wissenschafterinnen aller Disziplinen zu den "Gender Talks". Eine Schnittstelle soll auch der Workshop "Epigenetik, Gesellschaft, Geschlecht" bilden, der am 22. Juni in Kooperation mit dem Department für Biochemie und Zellbiologie der Uni Wien stattfindet. Von 13. bis 15. 9. veranstalten die Wiener Genderforscherinnen die internationale Konferenz "NeuroCultures – NeuroGenderings II", bei der u. a. Gender in der Gehirnforschung reflektiert werden soll. (kri)