Arbeitslose Männer warten auf den Stufen einer Bank auf Arbeit - wo immer die auch sein mag.

Foto: An Yan

Dieses Wellblechzelt ist die Unterkunft für die Arbeiter, die die Straße von Shangri-La nach Norden bauen. In dieser Gegend fällt die Temperatur im Winter auf minus 20 Grad. Gebaut wird das ganze Jahr über.

Foto: An Yan

Vergleichsweise luxuriöse Wohncontainer für Wanderarbeiter neben einer Baustelle in Kunming.

Foto: An Yan

Ein Wanderarbeiter bei der Zigarettenpause.

Foto: Yu Zeh

Den Begriff "Wanderarbeiter" kennt jeder - er ist in den letzten Jahren häufiger aufgetaucht, um auf die zunehmenden sozialen Probleme in der chinesischen Gesellschaft aufmerksam zu machen. Aber ich war überrascht festzustellen, wie normal dieser Zustand innerhalb der Volksrepublik ist.

Ausbeutung an der Tagesordnung

Wenn ich in ländliche Regionen Yunnans fahre - also bei praktisch jeder Fahrt außerhalb Kunmings -, bin ich immer wieder erstaunt, dass in den Dörfern vor allem alte Menschen und Kinder leben. Die Generation der Arbeiter ist zu einem Großteil abwesend - und dazu zählt in China jeder ab 16 Jahren. Die volle Besetzung eines Dorfes sah ich zum ersten Mal, als ich zum chinesischen Neujahrsfest eine Freundin besuchte. "Wir arbeiten das ganze Jahr über und kommen erst zu Neujahr nach Hause", erklärte sie mir. Die Mitglieder ihrer Familie sind über ganz China verstreut: von Guangzhou über Schanghai und Peking bis Xiamen. Die großen Metropolen versprechen Arbeit. Nur zwei Glückliche haben Arbeit in Kunming gefunden und sind mit zwölf Stunden Anfahrtszeit relativ "nahe" an ihrem Zuhause. Ich habe aber nie gehört, dass sich jemand darüber beschwert hätte. Wanderarbeit ist hier wie jeder andere Job, nur eben an einem anderen Ort.

Aus Medienberichten kennt man das Szenario zur Genüge: Viele Wanderarbeiter werden ausgebeutet in Jobs, in denen sie täglich mehr als zwölf Stunden arbeiten müssen und am Ende der Lohn nicht ausbezahlt wird. Ohne Ausbildung und ohne Wissen um ihre rechtliche Lage lassen sich viele Arbeiter von den Vorgesetzten einschüchtern. Weibliche Arbeiterinnen sind häufig zusätzlichen Belästigungen ausgesetzt.

Aber Wanderarbeiter sind auch der Grund für die schnelle Entwicklung Chinas. Nur durch ihre billige, massenhaft zur Verfügung stehende Arbeit können Städte so schnell wachsen, können Straßen und Gebäude innerhalb weniger Wochen gebaut und unendliche Mengen an Konsumartikeln produziert werden. Ohne die Wanderarbeiter könnte die Baustelle vor meinem Fenster nicht 24 Stunden am Tag weiterarbeiten - auf Kosten derer, die keine andere Wahl haben.

Wandergeschichten

Wanderarbeiter kommen meist aus ländlichen Gebieten oder Großstädten, in denen es zu viele Menschen für zu wenig Arbeit gibt, und arbeiten in wirtschaftlichen Ballungs- oder Entwicklungszonen. Typische Geschichten, die mir erzählt werden, sind: Zu Hause reicht die Feldarbeit nicht, um die Familie zu ernähren; der Familie wurde ihr Land weggenommen, um Bauprojekte hochzuziehen; ein Familienmitglied ist (im schlimmsten Fall chronisch) krank und braucht Geld für die Behandlung; das Kind soll an eine gute Schule und möglicherweise sogar die Universität ... Es gibt viele Gründe, warum man die heimischen Felder verlässt, um in der Ferne sein Glück zu versuchen. Die meisten dieser Gründe sind chronisch und Wanderarbeit ein Normalzustand. Junge Männer sehen es auch oft als Mut- oder Bewährungsprobe oder einfach als Abenteuer - bis sie am Arbeitsplatz sehen, wie wenig romantisch es dort zugeht.

Wandernde Körper

Wanderarbeit ist meist Knochenarbeit. Der eigene Körper ist das einzige Kapital, das sie haben, denn die Arbeiten, die sie erledigen, brauchen meist keine Vorerfahrung oder Schulausbildung, sondern Körperkraft und die Fähigkeit, jeden Tag ununterbrochen härtestens zu arbeiten - bis zu 13, 14 Stunden. Die meisten Wanderarbeiter finden sich auf Baustellen, in Großfabriken und im Transportwesen, wo sie die niedrigsten Arbeiten mit dem höchsten Risiko erledigen. Sie wechseln häufig den Aufenthaltsort und die Arbeit; manchmal, weil der Chef ihren Lohn nicht auszahlt, oft, weil die Lebens- und Arbeitsbedingungen so schlecht sind, dass sie fürchten, nicht mehr weiterarbeiten zu können.

Viele Arbeiter werden krank, weil die Unterbringung und Verpflegung extrem schlecht ist - eiskalte Wellblechbaracken halten den Winter Pekings nicht davon ab, die eine oder andere Lungenentzündung zu verursachen. Arbeitsunfälle stehen an der Tagesordnung, denn Sicherheitsvorkehrungen behindern nur das Arbeitstempo. Ohne Arbeit gibt es kein Geld, egal ob der Grund Krankheit, Arbeitsunfälle, Erschöpfung oder Schwangerschaft ist.

Weil die Unterkünfte dennoch Geld kosten, leben viele Wanderarbeiter auf der Straße. Sie bauen sich ihre eigenen Hütten aus Wellblech, schlafen auf Parkbänken oder in öffentlichen Toiletten.

Hörensagen

Aber wie kommt ein Bauer aus Südwest-Yunnan an einen Job in der "Fabrik der Welt" in Guangzhou? Es funktioniert eigentlich genauso, wie die Migration von Chinesen nach Europa begann: Alles läuft über Hörensagen, Mundpropaganda, Empfehlungen und Einladungen. Wenn jemand einen guten Job gefunden hat, sagt er das dem Nächsten weiter - so reicht es, wenn ein entfernter Cousin einmal von jemandem gehört hat, der von jemandem gehört hat ... Und schon kauft man sich ein Ticket nach Guangzhou oder in eine andere Stadt, in der vermeintlich ein Kontaktmensch die Ankömmlinge abholt.

Eine Stadt ist so gut wie die andere, wenn man zu Hause keine Möglichkeit hat, Geld zu verdienen. Wenn der Job doch nicht gut ist oder die Firma nicht mehr existiert, fragt man eben woanders nach Arbeit. Häufig wird ein großer Teil der eigenen Ersparnisse in die Anreise zum Arbeitsplatz gesteckt; manche Arbeiter müssen erst monatelang schuften, um überhaupt wieder nach Hause fahren zu können. So sieht sich die Familie nur einmal im Jahr. (An Yan, daStandard.at, 8.5.2012)