Mit einer Kuhglocke auf der Schulter und einer isländischen Mütze auf dem Kopf schleppt der in New York lebende, aus Vorarlberg stammende Konzeptkünstler Rainer Ganahl sein österreichisches Waffenrad an katholischen Marterln vorbei einen Berg hinauf, um einer Kuh eine nahezu unbekannte Erzählung des französischen Autors Alfred Jarry vorzulesen: "Die Passion Christi als Bergradrennen".

Foto: Rainer Ganahl

Alfred Jarry, Verfasser von "König Ubu", ließ den heiligen Matthäus als Sportreporter und Christus als Radrennfahrer auftreten. "Wie bringe ich die Literatur in den Film rein?", fragte sich Ganahl bei der Entstehung seines Kurzfilms "The Passion Considered as an Uphill Bicycle Race or I wanna be Alfred Jarry". "Ich lese den Text der Kuh vor", lautete die Antwort (der Film auf Youtube).

Foto: Rainer Ganahl

"I wanna be Alfred Jarry" lautet der Titel der bis zum 15. Juli im Tresor des Bank Austria Kunstforums Wien stattfindenden Ausstellung, die dem gleichnamigen, 1907 mit 34 Jahren verstorbenen exzentrischen Autor und fanatischem Radfahrer gewidmet ist. Das Kuhglocken-Halsband ist mit einer Widmung bestickt und mit Jarrys Porträt von König Ubu verziert, der Klöppel der Bronzeglocke ist eine Anlehnung an Jarrys unzählige Penis-Interpretationen.

Foto: Rainer Ganahl

Das Fahrrad ist in Jarrys Text ein Kreuz - beschädigt durch eine Reifenpanne -, die Kreuzigung ein bedauerlicher Unfall: "Jesus, in Hochform, trat also mächtig in die Pedale, und schon geschah's: Eine Dornenstreu, quer über den Weg gebreitet, durchlöcherte den Mantel seines Vorderrads." Später geht das Rennen als Himmelfahrt weiter. Hier knüpft Rainer Ganahl an Marcel Duchamps Zeichnung "Den Lehrling in der Sonne haben" von 1914 an, die auch auf die körperliche Anstrengung und Ausdauer von "Novizen" im Radsport anspielt. Aus diesen Elementen entwickelt Ganahl eine eigene Zeichnungsserie.

Foto: Rainer Ganahl

In seinem Roman "Der Übermann" formuliert Jarry eine düstere Vision der Überformung des Menschen durch die Technik. Er erfindet das "Perpetual Motion Food" (PMF), eine Nahrung, die durch die Mischung aus Alkohol und Strychnin endloses Durchhaltevermögen garantiert, indem die Muskeln bereits während ihrer Betätigung regeneriert werden.

Foto: derStandard.at/Tinsobin

Dieses Fahrradwrack stellt Ganahl in Zusammenhang mit einem Werk von Henri de Toulouse-Lautrec und bannt beides auf einen 16-mm-Kurzfilm. Die Darsteller sind ein "1898 Cleveland Model 64 pneumatic safety bicycle wrack, 22' frame, historic wooden rim, historic leather saddle" sowie eine von Toulouse-Lautrec signierte Fahrradzeichnung, ...

Foto: Rainer Ganahl

... die den walisischen Radrennfahrer und Weltmeister Jimmy Michael (1877-1904) zeigt, links im Hintergrund sein für Dopingtricks berüchtigter Manager Choppy Worburton, rechts der Sportreporter Franz Reichel. Jarry thematisiert den Leistungswahn in "Der Übermann" in Form eines 10.000-Meilen-Rennens von Wladiwostok nach Paris, bei dem fünf Radfahrer auf einem Gerät mit über 300 Stundenkilometern gegen einen Zug anfahren. Die Radfahrer nehmen ausschließlich "Perpetual Motion Food" zu sich. Einer stirbt, während sein Körper reflexartig noch eine Weile weiterradelt.

Foto: Rainer Ganahl

Ganahl greift Marcel Duchamps - im Übrigen ein großer Verehrer von Jarry - letztes Bild "Étant donné" auf ...

Foto: Rainer Ganahl

... und entwickelt daraus den Masturbationsfilm "Étant donné, Use a Bicycle", in dem eine Frau sich an einem Fahrradreifen befriedigt.

Foto: Rainer Ganahl

Was Ganahl zu dem Thema Kreuzigung, Vierteilung und Tod auf dem Fahrrad bringt. Damit verweist er ebenso auf die mittelalterliche Foltertechnik wie auf moderne Folterinstitutionen wie Guantanamo. Auf Letztere spielt auch die orange Kleidung an. Stattgefunden hat die Aktion 2007, in der Hochblüte des "Krieges gegen den Terrror", mitten auf einer Kreuzung in New York City.

Foto: Rainer Ganahl

Ebenso könnte sie mit Haflingern auf dem Land stattfinden, nur dass hier vier verschweißte Damenfahrräder im Zentrum der Vierteilung stehen.

"Seit meiner frühen Kindheit fahre ich mit dem Fahrrad", erzählt Ganahl. In Großstädten wie Paris und New York war er mit dem Fahrrad unterwegs, noch bevor sie fahrradfreundlicher gemacht wurden. Paris sieht er als das "beste Beispiel für die Konsequenzen verantwortungsvoller urbaner Politik, die in relativ kurzer Zeit eine Stadt ohne Fahrradwege in eine fahrradfreundliche Metropole verwandelte".

Foto: Rainer Ganahl

Ein perfekt restauriertes Vindex Bike und ein seltsamer Porzellan-Gegenstand. In dem 16-mm-Schwarz-Weiß-Film "I wanna be Alfred Jarry, Vindex Bike-Dick" steht Ganahl in Fahrrad-Rennkleidung unter einer Unterführung in Manhattan - übrigens ein Woody-Allen-Filmschauplatz - und versucht, einen Phallus am Lenker zu befestigen, der diesem in seiner Form nicht unähnlich ist.

Foto: derStandard.at/Tinsobin

Hier ein Abdruck des Reifenprofils in Latex.

Abseits der ökologischen Auswirkungen des Fahrradfahrens geht es Ganahl in erster Linie um die Auswirkungen auf den öffentlichen Raum: "Der Stadtraum sollte nicht unterbesetzten Autos angepasst sein, sondern Fußgängern, (E-)Fahrradfahrern und öffentlichen Verkehrsteilnehmern." Mit der Verlesung und Diskussion seines 2011 verfassten Fahrradmanifestos appelliert Ganahl für eine sinnvolle Stadtpolítik.

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Fahrradzubehör aus drei Jahrhunderten. Eine "Time Machine" nennt Ganahl das Sammelsurium, in dem sich auch Gegenstände aus den 1890er Jahren finden, als das Rad ein revolutionäres, Freiheit verheißendes Novum war. Hier kommt der Begriff "Pataphysik" ins Spiel: Jarry besuchte zwei Jahre lang den Philosophieunterricht von Henri Bergson und erfand den Begriff als "die Wissenschaft imaginärer Lösungen, die den Grundmustern die Eigenschaften der Objekte, wie sie durch ihre Wirkung beschrieben werden, symbolisch zuordnet". Eine treffende Definition für Kunst oder "die sich wandelnden Vorstellungen von Körper, Sexualität und Zeit". Kurz: eine Form der Zeitreise.

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Ganz im Hier und Jetzt ist Rainer Ganahl, was die Nutzung des Fahrrades vor allem im urbanen Raum betrifft. In seinem Manifest fordert er: "50 Prozent aller Straßen in jeder Stadt sollen den Fahrrädern und elektrischen Fahrrädern vorbehalten sein. Diese Straßen sollen Bikeways genannt werden." Der Konzeptkünstler ist selbst leidenschaftlicher Radfahrer und switcht nach Bedarf zwischen verschiedenen Rädern hin und her, wobei auch E-Bikes erlaubt sind, "allerdings nicht als Konkurrenz zum Fahrrad, sondern zum Auto". (Eva Tinsobin, derStandard.at, 13.5.2012)

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Rainer Ganahl: I wanna be Alfred Jarry
Bank Austria Kunstforum
Freyung 8, 1010 Wien
Öffnungszeiten:
Täglich 10-19, freitags 10-21 Uhr
Noch bis 15.7.

>> ganahl.info
>> iwannabealfredjarry.me
>> bicyclemanifesto.info

Foto: Rainer Ganahl