Dominique Reynié (51), einer der bekanntesten Politologen in Frankreich, ist Professor an der Pariser Eliteschule Sciences Po und leitet den Thinktank Fondapol, der sich als "progressiv und europäisch" bezeichnet. Zudem berät er die EU-Kommission. 

Foto: Standard/Brändle

Frankreich muss in Kürze 100 Milliarden Euro auftreiben - das wird das Land nach den Wahlen auf den harten Boden der Realität zurückholen, analysiert der Pariser Politologe Dominique Reynié im Gespräch mit Stefan Brändle.

STANDARD: War die Immigrationsthematik wahlentscheidend?

Reynié: Ein Thema war es allemal. Eine Ipsos-Umfrage ergab, dass 66 Prozent der Franzosen die Frage bejahen, ob es in ihrem Land "zu viel Immigranten" gebe. Darauf stützte sich wohl Nicolas Sarkozy, als er schon vor dem ersten Wahlgang voll auf Rechtskurs ging, um Marine Le Pen Stimmen abzuluchsen. Aber man kann sich fragen, ob das die richtige Strategie war, denn das Thema war schon durch Le Pen besetzt. Und auch François Hollande wählte keinen islamfreundlichen Kurs.

STANDARD: Hat ein Amtsinhaber heute angesichts der Krise in Europa überhaupt eine Chance?

Reynié: Durchaus. Es stimmt zwar, alle Parteien und Politiker, die an der Regierung sind, werden derzeit abgewählt, egal, ob sie rechts oder links sind. Doch Rechtspolitiker wie Sarkozy - oder auch Angela Merkel in Deutschland - haben ihre Chance: Die harte Wirklichkeit verlangt an sich "rechte" Maßnahmen. Es ist völlig klar: Europa wird mit weniger auskommen müssen, auch Linksregierungen werden sich dem nicht verschließen können. Für sie wird es noch härter, da ihre Wählerschaft an diese Opfer nicht gewöhnt ist.

STANDARD: Wie wird es mit Frankreich weitergehen?

Reynié: 2013 sind mehr als 300 Milliarden Euro an Krediten zurückzuzahlen - eine horrende Zahl. Wenn sie nicht reduziert oder auch nur stabilisiert werden, werden die Zinsen hochklettern. Grosso modo müssen 100 Milliarden Euro aufgetrieben oder eingespart werden. Das zwingt auf alle Fälle zu einer rigiden Sparpolitik, ob man will oder nicht. Spätestens nach den Sommerferien wird Frankreich auf dem harten Boden der Realität landen.

STANDARD: Keine rosigen Aussichten für die Linke ...

Reynié: Ich glaube, dass die Linke in Europa bedroht ist, denn sie kann sich der ökonomischen Realität nicht verschließen. Wenn sie sich ihr verweigert, wird sie scheitern; wenn sie die Sparpolitik der Rechten betreibt, droht sie ihre Wähler zu verlieren.

STANDARD: Ist Marine Le Pen die eigentliche Siegerin?

Reynié: Sie wird das Werk ihres Vaters Jean-Marie Le Pen fortsetzen und wahrscheinlich ausweiten. Beide haben ein griffiges Thema: Immigration, das heißt in Frankreich Islam. Darüber hinaus betont Le Pen ihre soziale Seite. Ihr Vater war für den freien Markt und gegen hohe Steuern; die Tochter tritt hingegen wie die meisten europäischen Rechtspopulisten für soziale Gerechtigkeit und einen starken Staat ein. Bei den Präsidentschaftswahlen nahm sie der bürgerlichen Rechten viel weg und kam auf 6,4 Millionen Stimmen - ein Rekord für den Front National. In Zukunft wird sie aber auch die Linke bedrängen, da sie in deren Stammwählerschaft einbricht. Sie ist heute schon Nummer eins bei den Arbeitern, den Arbeitslosen, den Jungen und bei vielen Rentnern.

STANDARD: Reiht sich dieser Erfolg in das Aufkommen der europäischen Rechtspopulisten ein?

Reynié: Ja, und das ist ein sehr gefährlicher Trend für Europa. Der antieuropäische Druck steigt und steigt - von Österreich mit der FPÖ über die Niederlande mit Geert Wilders bis nach Frankreich mit Marine Le Pen. Immer mehr Regierungen hängen direkt oder indirekt von diesen Parteien ab. Das untergräbt die europäischen Institutionen, was wiederum die Krise in Europa verschärft. Und wer profitiert davon? Natürlich die Rechtspopulisten. Das ist ein Teufelskreis.

STANDARD: Was tun?

Reynié: Man muss diese Umstände thematisieren, man muss über die Probleme reden: soziale Nöte, Immigration. Aber nicht mit der Sprache der Populisten, sondern auf sachliche Weise. Im Präsidentschaftswahlkampf gab es Ansätze dazu. Aber die Grenze zum Populismus ist schnell überschritten. (Stefan Brändle, DER STANDARD, 7.5.2012)