Martin S. Dean arbeitet Fragen der eigenen Herkunft und der kulturellen Identität zu Themen eines ironischen Bildungsromans um.

Foto: Claude Sulzer

Zu den Stoffen Martin R. Deans, dessen familiäre Wurzeln von der Schweiz über Trinidad bis nach Indien reichen, gehören Fragen nach der eigenen Herkunft und der kulturellen Identität. Im Titel seines neuen Romans "Ein Koffer voller Wünsche" sind sie geformt zu einem paradoxen Symbol für die Gleichzeitigkeit von Zusammenhalten und Auseinandergehen, Fülle und Leere, Beharrlichkeit und Mobilität.

Seine Geschichte bringt Deans Protagonist, nicht mehr ganz jung, aber auch noch nicht richtig älter, gleich im ersten Satz des Romans auf den Punkt: "Als ich sie das erste Mal einen Apfel schälen und sechs gleich große Stücke schneiden sah, damals, im Kahn mitten auf dem See, da ahnte ich, dass sie die eleganteste, stilsicherste und leiseste Frau war, die mir je begegnen würde". Der Mann heißt Filip Shiva Bellinger, die Frau Maia Gut Diesbach. Eine Eva, die nicht mit Äpfeln, sondern mit Apfelschälen verführt. Eine perfekte, vielleicht zu perfekte Frau.

Filip steht kurz vor der Bekanntgabe der Hochzeit. In London will er "zu sich kommen", wie man so sagt, denn reif für die Ehe fühlt er sich noch nicht. Er ist ein Taugenichts. Maia, generös wie sie ist, gönnt ihm die Bedenkzeit. Der Davonläufer soll noch ein bisschen davonlaufen, das wird ihn gegen das Davonlaufen immunisieren. Nicht reif ist Filip vor allem für die Sesshaftigkeit und die daraus resultierende Familiengründung. Er ist im Unterschied zu Maia kein "Schäler", sondern eher an Verpackungen interessiert. Er leidet unter dem, was die anderen "Filipisieren" nennen: Er kann nie fertig werden, will nie ankommen.

"Du kommst doch aus 'Hinterindien'", sagten Filip schon die Lehrer im aargauischen Menziken wohl wegen seines Aussehens. Die Gut Diesbachs hingegen kommen vom Vierwaldstättersee. Maias Vater ist ein konservativer Mann. Dass er dem Wein und der Romandie zuneigt, heißt nicht, dass er einen Koffer voller Wünsche hätte. Er ist Weinhändler, vermögend. Filip Shiva Bellinger kommt aus einfachen Verhältnissen. Doch nicht schweizerisch einfachen. Seine Mutter ist eine metaphorische "Aristokratin" - nur was die Lebensführung, nicht was die Lebensmittel betrifft. Filips Vater, ein indischer Guru, ist verschwunden.

In London soll Filip ihn suchen. In England ist eben ein Toter gefunden worden, der vom Himmel gestürzt sein muss. Wahrscheinlich aus dem Radkasten eines Flugzeugs, ein gefallener Engel ohne Identität. Ein Emigrant. Es ist seine Spur, die Filip in den Spitälern Londons verfolgt, nicht die des Vaters. Irgendwann scheinen sich die Identitäten der beiden dann zu vermischen - zu verwischen. Filip fühlt sich in London nicht unwohl. Das anarchisch Chaotische der vielen Kulturen, das etwas Heruntergekommene gefällt ihm. Nicht aus einem Humandusel heraus, sondern im Kontrast zur perfekten Schweiz - zum "Apfelkerngehäuse", das auf ihn wartet. Er lebt in einer schäbigen Wohnung, die er Maia kaum zu zeigen wagt, wenn sie ihn besucht. Zumeist geht er in einem Reisebüro mit dem etwas schiefen Namen Helvis Tourism seiner Arbeit nach. Er verkauft Hochzeitsreisen in die Schweiz. Das gefällt dem "Filipisierer". Nur, so sagt man ihm, sollte er nicht die Realität verkaufen, sondern den Traum "Schweiz". Den Titlis, nicht Aarau. Filips Traum aber ist Aarau.

Ausgerechnet auf dem Titlis kommt es für Filip und Maia dann zur grotesken Katastrophe; zu einer Katastrophe mit positivem Ausgang. Sie erfolgt im Anschluss an eine Familienzusammenkunft in der Villa der Gut Diesbachs. Filip möchte seine Hochzeit bekanntgeben. Aber in beinahe klassischem Stil geht bei diesem Fest fast alles schief. Auf dem anschließenden Ausflug erfährt Filip, dass Maia schwanger ist. Er ist also "angekommen". Wo? Da, wo er nicht hinwollte. Immerhin hat Filip noch einmal Glück auf seine Weise. Die Geschichte nimmt eine erwartet unerwartete Wendung, die nicht verraten werden soll

Deans Roman hat eine glatte Oberfläche. Er ist wohl gebaut, gut proportioniert. Die literarische Leistung zeigt sich erst dem Blick darunter. Wie er etwa mit Verdoppelungen und Spiegelungen arbeitet. Es gibt nicht nur zwei Schauplätze, zwei Familien, zwei Protagonisten, den leeren Koffer des Vaters und den mit Wünschen gefüllten des Sohnes. Auch Szenen spiegeln sich ironisch, wie die Liebesspiele des Schülers Filip mit Madelon und jetzt mit Maia Gut Diesbach - in einem Ziegenstall! Eine " Verdoppelung", die dann auch das Schreiben selber betrifft, bilden die " Träume", die Filip bei Helvis Tourism als Realität verkauft. Die für den Roman aber intimste Spiegelung sind die zwei namenlosen Toten: der aus dem Radkasten des Flugzeugs gefallene und der in einen Rosenbaum verwandelte, den Filip auf einem Londoner Friedhof findet.

Solche Ironie rettet in Deans Bildungsroman das, was sein Protagonist in paradoxer Weise für seine Identität braucht: das Gegenläufige. Filip ist nicht einer, der dazugehören möchte. Es wäre überhaupt ein Missverständnis, in ihm einen Flüchtling zu sehen. Er ist ein Schweizer - bloß einer ohne Heimweh. Vielleicht ist das der Skandal. (Samuel Moser, Album, DER STANDARD, 5./6.5.2012)