Beide Seiten hatten sich so große Mühe gegeben, die unangenehme Affäre schnell aus der Welt zu schaffen. Der blinde Bürgerrechtler Chen Guangcheng solte keine Belastung für die vierte Auflage der umfassenden Strategiegespräche zwischen Peking und Washington werden. Doch nun ist dieser Gipfel unversehens einem "Chen-Test" ausgesetzt, der zeigen wird, wie tragfähig die Beziehungen zwischen der Supermacht USA und ihrem aufstrebenden Konkurrenten China tatsächlich sind.

Weder Amerikaner noch Chinesen haben Interesse daran, wegen des Dissidenten in einen offenen Konflikt miteinander zu geraten. Diesen Schluss lassen die Statements zur Causa beim Gipfel in Peking zu. Was aber trotz aller Realpolitik zutage tritt, ist, dass die politische Sollbruchstelle des sinoamerikanischen Verhältnisses die Menschen- und Bürgerrechte sind. Die Grundfragen lauten: Wie sehr sind die Amerikaner bereit, dabei nachzulassen? Und wie sehr wollen die Chinesen im Gegenzug von ihrer unerbittlichen Haltung in der Sache abweichen?

Diese Fragen bleiben bestehen, auch wenn sich eine pragmatische Lösung für Chen findet (er wird wohl irgendwann ins Exil gelassen, weil er Peking dort viel weniger schaden kann als im eigenen Land). Antworten haben beide Mächte nicht parat. Und angesichts der Umstände - US-Wahlkampf, Machtübergabe in China - werden sie auch bis zum nächsten Dissidenten-Test nicht gefunden sein. (Christoph Prantner, DER STANDARD, 4.5.2012)