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Die Aufnahmen ist nicht ganz aktuell. Sie stammt aus dem Jahr 2007 und zeigt Fans der algerischen Mannschaft Entente Setif. 

Foto: REUTERS/Larbi Louafi

Ich stehe auf dem Balkon meines Zimmers im vierten Stock des altehrwürdigen Hotels Albert 1er im Zentrum Algiers. Vor mir liegt der Platz vor dem Postgebäude - einem weißen Bau im maurischen Stil - mit seinen Gärten und etwas weiter der Hafen und die Bucht vor der Hauptstadt Algeriens. Alger, la Blanche - Algier, die Weiße - nannten einst die französischen Kolonialherren die Stadt am Mittelmeer. Und auch die heutigen Bewohner, die vor 50 Jahren nach der Unabhängigkeit den Platz und die verlassenen Wohnungen der Franzosen eingenommen haben, nennen sie noch immer so. Auf Französisch, versteht sich. Denn ernsthafte Dinge werden hier nach wie vor in der Sprache Voltaires und Descartes ausgedrückt.

Aber ich schweife ab. Eigentlich wollte ich den Ausblick vom Balkon genießen. Doch leider ist nichts im Leben perfekt, auch mein Zimmer nicht. Die letzten beiden Nächte war es ziemlich laut. Nicht etwa, dass die Kampagne für die Parlamentswahl am 10. Mai meine Nachtruhe stören würde - die interessiert hier so gut wie keinen. Es ist König Fußball, der Algier regiert.

"GIA, schneide ihnen die Gurgel durch"

Am ersten Tag meines Aufenthaltes kreiste ein Autokorso bis tief in die Nacht um den Platz vor meinem Balkon und feierte den Pokalsieg des Fußballklubs aus Setif. Mir war nicht bewusst, dass die Provinzkicker aus dem Osten in der Hauptstadt so viele Anhänger haben. In der zweiten Nacht dann ähnliche Bilder: Dieses Mal gewann mein Favorit in Algier, USMA aus dem ehemaligen spanischen Stadtteil Bab el Oued, das Derby gegen die "Tschitschi" - Schnösel - vom MCA. Meine Nachtruhe war wieder dahin.

Die Algerier sind Fußballnarren. Selbst wenn in Spanien Real Madrid gegen den FC Barcelona spielt, ist das den Anhängern der einen oder der anderen einen Autokorso wert. Das größte Freudenfest erlebte ich zweifelsohne, als Frankreich dank des algerischstämmigen Zinedine Zidane Weltmeister und Europameister wurde.

Selbst im tiefsten Bürgerkrieg gingen Pokal und Meisterschaft weiter. Ich besuchte regelmäßig zusammen mit meinem Freund und Chauffeur das Stadion des USMA. Chöre wie "GIA, schneide ihnen die Gurgel durch" waren damals keine Seltenheit. GIA, das war die brutalste der bewaffneten islamistischen Organisationen.

Selbst geschmiedete Säbel

Was einst nur aggressive Sprüche waren, ist längst in aktive Gewalt umgeschlagen. Knüppel, Eisenstangen, sogar selbst geschmiedete Säbel sind unter den Fans keine Seltenheit mehr. Beim vorletzten hauptstädtischen Derby zwischen MCA und USMA im Pokal-Viertelfinale kam es zu einer regelrechten Schlacht im Stadion. Die Fernsehbilder rissen ab, als zwei Kameras von Anhängern der MCA umgerissen wurden. Die Auseinandersetzungen forderten über hundert Verletzte.

Was beim Fußball passiert, ist ein Reflex auf die gesellschaftliche Realität. Algeriens Jugend hat keine Perspektive. Selbst in der Hauptstadt sind Jobs für junge Menschen Mangelware. Zwei Drittel der Bevölkerung sind unter 35 Jahre alt. Sie leben meist zu Hause, in viel zu engen Wohnungen. An eine Beziehung, Heirat, Kinder, Auto, Reisen - an ein Leben, wie sie es aus dem Satellitenfernsehen kennen und wie es sich ihre Eltern und Großeltern erhofften, als sie die Kolonialmacht vertrieben, ist nicht zu denken. Wer sich gegen die soziale Ungerechtigkeit auflehnt, bekommt es mit der Polizei zu tun. Der Fußball ist das einzige Ventil für die aufgestauten Aggressionen in einer völlig verrohten Gesellschaft. (Reiner Wandler, derStandard.at, 3.5.2012)